Foto: C. Ritter

Stillstand auf dem Kreuzweg

Bericht zum »Marsch für das Leben« am 16. September 2017 in Berlin

Wer erwartet hatte, dass es beim diesjährigen Aufmarsch der »Lebensschützer« eine Woche vor der Bundestagswahl in Berlin besonders politisch zugeht, der wurde enttäuscht. Neben den vielen wegen der heißen Wahlkampfphase fehlenden Politiker*innen hinterließ vor allem der abwesende Ex-Veranstalter Martin Lohmann eine klaffende Lücke. Sowohl die Inhalte als auch das Auftreten und die Zahl der Teilnehmenden auf dem 13. »Marsch für das Leben« bleiben eher als unterdurchschnittlich in Erinnerung, die Gegenproteste als Erfolg.

von Eike Sanders und Ulli Jentsch

»Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten« lautet das christliche achte Gebot, das die OrganisatorInnen und Pro-Life-KommentatorInnen des diesjährigen Marsch für das Leben brechen. Die Zahlenjonglage des Bundesverband Lebensrecht (BVL) übertrifft 2017 das bereits bisher übliche Maß der Diskrepanz zwischen den Teilnehmendenzahlen der VeranstalterInnen, denen der Polizei und denen der Presse. Die »Lebensschützer« haben aus Propagandazwecken ihre TeilnehmerInnenzahl mehr als verdoppelt: Beobachter*innen des apabiz zählten am Anfang und am Ende des Marsches jeweils 3.200-3.500 Teilnehmende. Das Institut für Protest- und Bewegungsforschung (ipb) zählte »etwa 3.500 (3.432)« Teilnehmende »gemittelt aus zwei Reihenzählungen«[1], die Polizei hat gegenüber verschiedenen Journalist*innen von lediglich 3.000 Teilnehmenden gesprochen. Verschiedene Presseberichte geben diese Zahl auch wieder.[2]

Der Moderator Hartmut Steeb verkündete hingegen beim Abschlussgottesdienstes am Ende des Marsches für das Leben, dass sie wieder so viele wie im letzten Jahr, also 7.500 Teilnehmende gewesen seien. Dies griffen alle christlichen und neurechten Medien in ihrer Berichterstattung auf und rundeten auch gerne noch auf 8.000 auf. Rudolf Gehrig vom katholischen Internetsender EWTN.TV behauptet sogar dreist: »Er [Der Marsch für das Leben] war natürlich wie immer sehr eindrucksvoll, also die offiziellen Schätzungen, die sind jetzt auch schon reingekommen von der Polizei. Die 10.000, die du angekündigt hattest, das haben wir nicht ganz geknackt, aber es sind immerhin wieder 7.500 gewesen.«[3]

Die Vorsitzende der Aktion Lebensrecht für Alle (ALfA) und des BVL, Alexandra Linder, gemeinsam mit Angelika Doose, Referentin für Öffentlichkeitsarbeit bei ALfA, am Fronttransparent des MfdL 2017. (Foto: Laika Alva / apabiz e.V.)

 

Der BVL nach dem Vorstandswechsel

Der »Marsch für das Leben« als das zentrale jährliche Großereignis der »Lebensschutz«-Bewegung ist auf eine Erfolgsmeldung angewiesen. Schon letztes Jahr hatten wir eine Stagnation der TeilnehmerInnenzahlen bei 5.000 (2016, 2015 und 2014; 2013: 4.000) festgestellt, während die VeranstalterInnen jedes Jahr von einer Steigerung sprachen. Das Potenzial der mobilisierungsfähigen AbtreibungsgegnerInnen scheint der BVL inzwischen ausgeschöpft zu haben und nach dem Vorstandswechsel im Mai diesen Jahres – Martin Lohmann stellte sich nicht erneut zur Wahl, Alexandra Maria Linder (Vorsitzende des »Aktion Lebensrecht für Alle« e.V. – ALfA) wurde neue Vorsitzende – fiel es dem BVL offensichtlich schwer an Lohmanns integrative Kraft anzuknüpfen. Lohmann, der als freier katholischer Publizist und bis 2013 CDU-Mitglied im Gegensatz zu Linder zusätzlich keine der großen expliziten »Lebensschutz«-Organisationen wie ALfA, KALEB[4] oder Christdemokraten für das Leben (CDL) vertrat, war dieses Jahr nicht einmal anwesend, um beim einzigen Event des BVL – also quasi seiner Daseinsberechtigung – den Staffelstab an die neue Vorsitzende zu übergeben.

Umso düpierender wirkte die Begrüßung des Co-Moderators Hartmut Steeb (Stellvertretender BVL-Vorsitzender, Generalsekretär der Deutschen Evangelischen Allianz und Vorsitzender des Treffen Christlicher Lebensrecht-Gruppen e.V. ): »Ich freue mich auch, dass die beiden Damen rechts und links von mir gekommen sind. Rechts von mir steht Alexandra Linder, die war bereit, im Frühjahr den Vorsitz zu übernehmen im Bundesverband Lebensrecht und ich freu mich, dass sie trotzdem gekommen ist.« Zwar moderierten Steeb und Linder zusammen mit der neuen zweiten stellvertretenden Vorsitzenden Cornelia Kaminski die Auftaktkundgebung, doch Linder wirkte eher wie ein Gast und nicht wie die Gastgeberin und Chefin des BVL. Martin Lohmanns von Manfred Libner (bis zum Vorstandwechsel stellvertretender Vorsitzender des BVL, Geschäftsführer der Stiftung Ja zum Leben) verlesenen Grußworte betonten in dem für Lohmann typischen pathetischen, doch eher inhaltsleeren Duktus die Erfolge des BVL der letzten Jahre: »Der Lebensschutz hat mit seinem Marsch für das Leben ein ebenso einladendes wie beeindruckendes Gesicht. Das ist gut so. Aus wenigen hundert Teilnehmern sind viele Tausende geworden. Aus allen Regionen, Glaubensrichtungen und Altersstufen. Bunt, freundlich, wortstark und sympathisch. Männer und Frauen, Jugendliche und Kinder, Laien, Priester, Bischöfe. Alle sind jetzt dabei. Den Marsch kann man nicht mehr übersehen. Gott sei Dank.((Applaus))«

Keine neuen Inhalte

Inhaltlich und personell konnte oder wollte der BVL dieses Jahr keine neuen Akzente setzen. Während in den Vorjahren die bioethischen Standpunkte, insbesondere die Ablehnung der behindertenfeindlichen selektiven Effekte pränataler Diagnostik, ausgeweitet wurden, blieben die Redebeiträge dieses Jahr bei der Nennung der üblichen Schlagworte: Gegen »Euthanasie«, gegen vorgeburtliche Selektion und selbstverständlich gegen Abtreibungen allgemein.[5]

(Foto: C. Ritter)

 

So eröffnete Linder damit, dass nun trächtige Rinder nicht mehr geschlachtet werden dürften, aber ein konsequentes Abtreibungsverbot immer noch nicht durchgesetzt sei: »Im Mai ging ein Aufschrei durch Deutschland, weil beim Schlachten von Rindern deren ungeborene Kälber elendig sterben müssen. Das ist tierschutzmäßig schlimm. Es gab sofort eine Entscheidung der Politik zu sagen: Hoch trächtige Rinder dürfen auf keinen Fall zum Schlachthof mehr gebracht werden. Meine Damen und Herren, dieser Aufschrei und diese konsequente Handlung wünschen wir uns auch für Menschenkinder ((Applaus)).«[6] Danach verlas Matthias Heinrich (der katholische Weihbischof von Berlin) das Grußwort des Berliner Erzbischofes Heiner Koch. Bemerkenswert ist hier die implizite Distanzierung von rassistischen Tendenzen, wohl auch ein Fingerzeig in Richtung AfD: »Als Christen werden wir uns deshalb aber nur glaubwürdig für den Schutz des Lebens am Anfang und am Ende einsetzen können, wenn wir zur gleichen Zeit zur Lebensgefährdung etwa in der Flüchtlingsfrage nicht schweigen.« Der Lebensschutz, so Koch, werde aber »völlig zu Unrecht« immer wieder in die rechte Ecke gestellt. Ekkehart Vetter, seit Januar 2017 Vorsitzender der Deutschen Evangelischen Allianz, setzte in seiner Rede einen ähnlichen Punkt wie Erzbischof Koch: »Und dies [das Recht auf Leben] gilt auch für in unser Land geflüchtete Menschen, die angesichts des Terrors, des Krieges oder des unmenschlichen Gefahren für Leib und Leben hier Zuflucht suchen. Die Ehrfurcht vor dem Leben und der Schutz des Lebens sind nicht teilbar.« Der Applaus an diesen Stellen blieb mäßig.

Desweiteren sprach Robert Antretter (ehemaliger SPD-Bundestagsabgeordneter und Ehrenvorsitzender der Bundesvereinigung Lebenshilfe[7]), der von einem weiteren abwesenden Prominenten, dem ehemaligen Beauftragten der Bundesregierung für Behinderte, Hubert Hüppe (CDU), grüßen ließ. Wie andere Abgeordnete hatte Hüppe sich unter Hinweis auf den Wahlkampf entschuldigen lassen. Dennoch hatten mindestens 40 Prominente, darunter immerhin 22 Abgeordnete Grußworte geschickt, die auf der Seite des BVL veröffentlicht wurden. Wie üblich waren Reden von »Betroffenen« zentral, in diesem Fall redeten Lukas Wendland, ein 18jähriger Junge mit Trisomie 21, und seine Mutter Hiltrud Wendland sowie »Eugenia und Paul«, ein junges Paar, das sich zwei Mal zu einer Abtreibung entschieden hatte und dies nun bereut.

Hartmut Steeb moderierte dann eine Schweigeminute an: »Wir sind hier die nationale Gedenkfeier […]. Wir gedenken hier dieser getöteten Kinder im Unterleib«. Cornelia Kaminski, offensichtlich beauftragt für Jugendliche und die internationale Kooperation, moderierte und übersetzte anschließend zwei jugendliche Rednerinnen aus Irland und Großbritannien. Es folgten zwei deutschsprachige Delegierte aus dem Ausland: Angelika de Poncharra von Choisir la Vie (Frankreich) beklagte die »sexuelle Früherziehung, richtiger gesagt: Verführung« und dass sich die »Lebensschützer« nach einem noch unter Francois Hollande erlassenen Gesetz »auf eine Gefängnisstrafe von zwei Jahren und auf eine Geldstrafe von dreißigtausend Euro gefasst [machen], wenn wir einer schwangeren Frau von einer Abtreibung abraten.« Beatrice Gall aus Zürich (Schweiz) war gekommen, weil der dortige »Marsch für’s Läbe« am 17. September (eidgenössischer Dank-, Buß-, und Bettag) von den zuständigen Gemeinden unter Bezug auf die zu erwartenden Gegenproteste und die zu erwartende Störung des kantonalen Ruhetagsgesetz verboten worden war. Man gewähre also, so Alexandra Linder launisch, der »Schweizer Lebensrechtsbewegung« heute in Berlin Asyl: »Alle Welt spricht vom Asyl. Auch für uns ist das heute ein Thema.«

Provokation Birgit Kelle?

Die Journalistin Birgit Kelle bei der Auftaktkundgebung (Foto: C. Ritter)

 

Zum Abschluss redete Birgit Kelle. Sie traf deutlicher als andere den identitätsstiftenden und pastoralen Ton, den die Teilnehmenden so gerne hören und der ihnen von Lohmann so oft ins Ohr gepredigt worden war: »Ihr seid nicht alleine. Wir sind viele und wir werden jedes Jahr mehr und das ist gut so.« Die Journalistin, die aktuell vor allem in der Tageszeitung Welt mit ihren »Lebensschutz«-Kommentaren präsent ist, griff den angeblichen Zynismus der politischen Parteien beim Thema Abtreibung an und war damit die einzige, die sich inhaltlich mit dem derzeit laufenden Wahlkampf auseinander setzte. Sie wiederholte ihr Credo, dass es angeblich keine Unterstützung für Mütter gebe: »Es ist für eine Gesellschaft keine Errungenschaft sondern ein Armutszeugnis, dass sie Müttern das Recht gibt, ihre Kinder zu töten, aber nicht unterstützt, dass sie mit ihren Kindern leben (…) ((Applaus)) Wenn wir das nicht ändern, dann bleibt jede Frauenpolitik im Keim sticken […].« Den TeilnehmerInnen rief sie zu: »Seien sie gerne eine Provokation.«

Die Anwerbung der prominenten Journalistin als Rednerin auf dem »Marsch für das Leben« kann in der Summe der gewonnenen RednerInnen, die weder personell noch inhaltlich Neues oder Überraschendes präsentierten, als der einzige Erfolg des BVL gewertet werden. Auch die abschließend von Steeb und Linder verlesenen und zur Pseudo-Abstimmung – »Sie können jedes Mal, wenn wir eine Forderung gelesen haben, die grünen Karten hoch halten, dass sie einverstanden sind. Sie können nichts verkehrt machen, die Rückseite ist auch grün.« – gestellten Forderungen des BVL an den Bundestag sind nicht besonders spezifisch und altbekannt: Sie umfassen die Forderung, keine Abtreibungen aus Steuergeldern zu finanzieren, dass es kein Recht auf Abtreibung gebe, die Gewissensfreiheit zu akzeptieren und anderes. Rätselhaft ist die siebte Forderung nach einem Verbot von Eizellspende und Leihmutterschaft, welche ja schon längst verboten sind.

Das Publikum

Wie immer zog der Marsch nach der etwa einstündigen Auftaktkundgebung »schweigend« durch Berlin, dieses Jahr erstmalig auch durch das Brandenburger Tor, jedoch auf verkürzter Route. Das Bild des Marsches prägten wie immer die weißen Kreuze und die einheitlichen Schilder des BVL. Das Publikum kam erwartungsgemäß laut Applaus bzw. Gejohle-Messung durch Cornelia Kaminski aus ganz Deutschland, vor allem Süddeutschland, insbesondere Bayern, Baden-Württemberg und Sachsen. Auffällig war eine große polnische Gruppe und polnische Einzelpersonen, die auch zwei polnische Fahnen mittrugen und mindestens drei polnische Journalisten: Einer von Radio Szczecin[8] und zwei junge Männer von »media narodowe«, einem im vergangenen Jahr gegründeten Medienportal, das große Teile der extremen Rechten bei sich versammelt oder als Partner hat. Der bereits veröffentlichte Beitrag des Portals zum Marsch steht unter dem Titel »Die Deutschen wollen wieder morden – damals durch Nazismus, heute durch Liberalismus“[9].

Während die große Prominenz von KirchenvertreterInnen fehlte, war die Zahl der Pfarrer, Priester, Pastoren und einzelner Nonnen doch erkennbar hoch. Wie immer gab es einige Jugendgruppen, darunter die internationale charismatisch-evangelikalen CEC4Life und am Fronttransparent und in einheitlichen T-Shirts die »Jugend für das Leben« – ob es mehr junge TeilnehmerInnen waren als sonst, kann nicht beurteilt werden. Die Jugendlichkeit der Bewegung gehört jedoch seit jeher zu der Selbstsuggestion der VeranstalterInnen: »Die Lebensrechtsbewegung ist eine junge Bewegung.«[10] Doch auch unter den organisierten Jugendlichen in der »Lebensschutz«-Bewegung macht sich nach einigen Jahren offenbar gelegentlich Ernüchterung breit: »Manchmal hat man das Gefühl, es ändert sich gar nichts mehr«, berichtete eine junge Frau aus Sachsen dem katholischen Sender EWTN.tv.[11]

Proteste während der Auftaktkundgebung (Foto: C. Ritter)

 

Wirkung der Gegenproteste

Jedoch hatten offensichtlich weniger Eltern ihre minderjährigen Kinder mitgebracht. Dies mag dem Erfolg der Gegenproteste geschuldet sein. Die beiden feministischen Bündnisse »What the Fuck?!« und »Bündnis für sexuelle Selbstbestimmung« hatten auch dieses Jahr wieder jeweils 2.000 bzw. 1.000 Gegendemonstrant*innen[12] mobilisiert. Eine Blockade führte zu einem Stopp des Marsches und zu einer Verkürzung der Route. Während des gesamten Marsches bis zum Abschlussgottesdienst war es kleineren Gruppen von Gegendemonstrant*innen gelungen überraschend direkt im oder am Marsch zu protestieren. Spätestens seitdem 2015 der Marsch erstmalig blockiert werden konnte, kommen die »Lebensschützer« nicht umhin anzuerkennen, dass es Widerstand gegen ihre Positionen und ihre inszenierte Präsenz in der Hauptstadt gibt. Während sie sich ständig der absoluten Richtigkeit ihres Anliegens versichern, muss Rudolf Gehrig zugeben: »Also ich hab’s auch schon erlebt […], wenn da die Gegendemonstranten immer wieder Lärm gemacht haben: Das geht schon an die Substanz. Und wir kennen alle die gemeinen Statements und Parolen, die uns da an den Kopf geworfen werden – das prallt nicht an jedem ab.«[13] Zum ersten Mal konnten bei diesem Marsch Grüppchen von ChristInnen beobachtet werden, die religiöse Lieder während des Schweigemarsches sangen, ein Klientel, das wir sonst von den ultra-katholisch geprägten Märschen in Münster, Freiburg und München kennen und dem die BVL-Inszenierung als weltlich und weltoffen und eben nicht fundamentalistisch entgegen lief. Auch die anhaltenden Distanzierungen aus wesentlichen Teilen der Kirche und Politik können einige »Lebensschützer« demobilisiert haben. Erinnert sei hier an die Entscheidung des Berliner Diözesanrates, der höchsten Laienvertretung im Erzbistum Berlin, dem Marsch die Unterstützung zu verweigern, da »viele Befürworter des Marsches eine differenzierte Auseinandersetzung mit dem komplexen Thema des Lebensschutzes vermissen ließen«[14]. Die Entscheidung führte zu wütenden Antworten, auch aus dem Kreis des BVL.

Insgesamt mag nach den Erfahrungen der letzten Jahre dem bürgerlichen Spektrum langsam die Lust vergangen sein, eine Reise in die »Hauptstadt des Tötens« – so Lohmann über Berlin 2016 – zu unternehmen, das ihnen als Sündenpfuhl erscheinen muss und in der sie mit masturbierenden Madonnenbildern, küssenden Lesben und blasphemischen Sprüchen konfrontiert sind. Hinzu kommt eine breitere Presseberichterstattung, in der die unkonfessionellen und nicht rechten Medien den Marsch durchaus kritisch betrachten und der Kritik der Gegenseite am religiösen Fundamentalismus, dem offenen Antifeminismus, der tendenziellen Homo- und Trans*feindlichkeit der Bewegung und vor allem den Überschneidungen in die AfD Raum geben.

Fazit und Ausblick: Kreuzweg oder Scheideweg

Die Taktik des BVL für das zentrale Event der Bewegung war immer schon ein fragiler Balanceakt: Der Marsch ist ein Marsch gläubiger ChristInnen, aber die RednerInnen waren paritätisch katholisch, evangelikal oder überkonfessionell. Er speist sich personell aus den lokalen Gemeinden, aber nutzt die Macht der hohen Politik. Er ist sehr nah an der CDU, aber ebenso offen für christlich-fundamentalistische Splitterparteien wie PBC, AUF oder CM. Und er war offen für Einzelpersonen aus der AfD, solange die Partei noch nicht in offener Konkurrenz zur CDU stand. Auch dieses Jahr nahmen AfD-PolitikerInnen wie Annette Schultner (Vorsitzende der Christen in der AfD), Joachim Kuhs (stellvertretender Vorsitzender der ChrAfD) und Steffen Königer (AfD Brandenburg) teil, Beatrix von Storch (stellvertretende Bundesvorsitzende der AfD, Landesvorsitzende der AfD Berlin und Abgeordnete des EU-Parlaments) fehlte allerdings. Martin Lohmann hat diesen Balanceakt über die Jahre professionalisiert, doch innerhalb der letzten zwei Jahre ist in der politischen Landschaft der Druck groß geworden, sich zu positionieren: In den großen Kirchen wird die Distanzierung vom Rassismus der AfD geübt und vorsichtig erste Unvereinbarkeitsbeschlüsse getroffen während gleichzeitig die AfD ihr christliches Selbstverständnis innerparteilich aushandelt und auf dem evangelischen Kirchentag offen den Streit gesucht hat.

AfD- und CDU-»LebensschützerInnen« an der Spitze des »Marsches für das Leben« 2017, u.a. Anette Schultner (Bundessprecherin Christen in der AfD, zweite Reihe links), Ruthild Kohlmann (Bundesvorsitzende KALEB, erste Reihe 2. v.l.), Joachim Kuhs (AfD, zweite Reihe, halb verdeckt) und Mechthild Löhr (CDL-Vorsitzende, erste Reihe Mitte). (Foto: Laika Alva / apabiz e.V.)

 

Gäbe es nicht diese machtpolitischen Faktoren, könnte die »Lebensschutz«-Bewegung vom bemerkenswerten und bedrohlichen gesellschaftlichen Erstarken antifeministischer Diskurse profitieren. Doch sie ist durch ihren eingeübten Spagat in eine Bredouille geraten: Ihre Äquidistanz zu allen Seiten, der Versuch, sich eben nicht festzulegen, beschränkt sie darin, Druck auf die Parteien für ihre Politik auszuüben. Denn wenn sie sich zu sehr der AfD anbiedert, stößt sie allen wichtigen CDLerInnen vor den Kopf. Geriert sie sich aber als Bewegung der CDU/CSU schöpft sie das erhebliche Potential der AfDlerInnen und AfD-WählerInnen nicht aus. Während die Frage »wie hältst du es mit der AfD?« die Gesellschaft und darin auch die Kirchen spaltet, hat das Nicht-Entscheiden-Wollen der »Lebensschutz«-Bewegung den Marsch für das Leben am Samstag vor der Bundestagswahl gelähmt und für die Bewegung zu einem Rückschlag geführt.

Unsere Prognose aus dem letzten Jahr, dass grundsätzlich das Mobilisierungspotenzial ausgeschöpft sein dürfte, hat sich in diesem Jahr bestätigt: Innere Querelen und weiter erstarkende Gegenproteste, die unüberhorbaren und spürbaren Dissenz verkünden, lassen die Teilnehmendenzahlen sofort auf einen Kern von dreieinhalb Tausend sinken. Die Auseinandersetzungen um den christlichen Kurs gegenüber der AfD werfen ihren Schatten auch auf die »Lebensschutz«-Bewegung und sie dürften noch lange nicht ausgestanden sein. Wenn sich der BVL nicht der AfD in die Arme wirft – was nicht zu erwarten ist – könnte der Aufschwung des Marsches für das Leben endgültig vorbei sein.

 

  1.  twitter.com/protestinstitut tweet vom 16. September 2017
  2.  Darunter der Tagesspiegel (http://www.tagesspiegel.de/berlin/demos-in-berlin-tausende-gingen-am-samstag-auf-die-strasse/20338116.html) und das evangelikale PRO Medienmagazin: https://www.pro-medienmagazin.de/kommentar/2017/09/19/medien-marginalisieren-abtreibungsgegner/
  3.  EWTN.TV: »Berlin hat uns eines Besseren belehrt«, Fazit zum »Marsch für das Leben«, am 18.09.2017
  4.  KALEB – Kooperative Arbeit und Leben ehrfürchtig bewahren
  5.  Die neue Strategie der »Lebensschutz«-Bewegung, medizinethische Fragen zuzuspitzen und an das Weigerungsrecht des medizinischen Personals zu appellieren, fand auf diesem Marsch nur in den »9 Forderungen an den neuen Bundestag« (s.u.) Platz, dort heißt es: »8. Respektieren Sie das Gewissen: Keine Ausgrenzung von Menschen, die in medizinischen Berufen tätig sind und sich nicht an Abtreibung und assistiertem Suizid beteiligen!«. Eine Studie zu dem Thema ist im Erscheinen begriffen, erste Auszüge können hier gelesen werden.
  6.  Dieses und die folgenden Zitate beruhen auf der Transkription des apabiz e.V.
  7.  Die Bundesvereinigung Lebenshilfe e.V. ist eine der größten behindertenpolitischen Organisationen in Deutschland und versteht sich als ein Selbsthilfe-, Eltern- und Fachverband für Menschen mit Behinderung und ihre Familien.
  8.  Beitrag unter http://radioszczecin.pl/1,359806,szczecinianie-jada-do-berlina-na-marsz-dla-zycia. Das Radio berichtete bereits im vergangenen Jahr, siehe http://radioszczecin.pl/1,359821,szczecinianie-na-marszu-dla-zycia-w-berlinie-wid&s=1&si=1&sp=1
  9.  Zu finden auf dem youtube-Kanal unter https://youtu.be/qJp5SBSFY9o. Ein weiterer trägt den Titel »Christen gegen Marxisten. Zusammenstoß zweier Welten«: https://medianarodowe.com/chrzescijanie-kontra-marksisci-starcie-dwoch-swiatow-centrum-berlina-wideo/
  10.  So Cornelia Kaminski in ihrer Moderation.
  11.  EWTN.tv: ebenda.
  12.  So die übereinstimmenden Zahlen in der Presseberichterstattung, u.a. https://www.welt.de/regionales/berlin/article168703422/Ueber-10-000-demonstrieren.html
  13.  EWTN.tv: ebenda.
  14.  Katholikenrat fördert »Marsch für das Leben« nicht, 24.5.2017, siehe http://www.katholisch.de/aktuelles/aktuelle-artikel/katholikenrat-fordert-marsch-fur-das-leben-nicht