Foto: Christian-Ditsch.de

Umkämpfte Erinnerung

Das Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus steht zunehmend unter Druck von rechts. Auch weil die letzten lebenden Zeitzeug*innen ein hohes Alter erreicht haben, ist eine Leerstelle entstanden, in die nun auch rechte Akteure drängen. Allerdings war Geschichtspolitik schon immer ein zentrales Betätigungsfeld der extremen Rechten.

von Vera Henßler

»Polizeieinsatz bei Gedenken für Holocaust-Opfer«, »Tumulte auf Friedhof in Berlin-Marzahn« oder auch »Antifa sprengt wegen AfD Holocaust-Gedenkfeier«, über die Ereignisse während des diesjährigen Gedenkens auf dem Parkfriedhof in Berlin-Marzahn anlässlich des Jahrestags der Befreiung von Auschwitz berichteten nicht nur die lokalen Medien. Die Kurzfassung: Die Bezirksverordnetenversammlung hatte auch in diesem Jahr zum Stillen Gedenken auf dem Friedhof geladen, und die lokale AfD hatte ihre Teilnahme angekündigt. Gegen die Doppelmoral der Partei, deren Funktionäre in der Vergangenheit nicht unbedingt durch einen sensiblen Umgang mit der NS-Vergangenheit aufgefallen sind, regten sich Proteste. Die Berliner Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten (VVN-BdA) forderte die Bezirkspolitik in einem offenen Brief dazu auf, die AfD vom Gedenken auszuladen und organisierte vor dem Friedhof eine Kundgebung gegen die Teilnahme der Partei am Gedenken. Als viele der Kundgebungsteilnehmer*innen im Anschluss an dem Gedenken auf dem Friedhof teilnehmen wollten, wurden sie durch die anwesende Polizei daran gehindert. Das ist in der Tat, gelinde gesagt, empörend. Einer Organisation, die seit vielen Jahrzehnten die Interessen von NS-Verfolgten und ihrer Familien vertritt, wird zugunsten einer Partei, deren Protagonisten den Nationalsozialismus als »Vogelschiss« bezeichnen oder eine »erinnerungspolitische Wende um 180 Grad« fordern, das Gedenken untersagt. Und: Die Auseinandersetzung in Marzahn weckt Assoziationen, wenn auch in einem anderen Kontext. So nahm in den 2000er Jahren in Dresden die NPD-Landtagsfraktion, begleitet von dutzenden weiteren Neonazis, am offiziellen Gedenken an die Bombardierung Dresdens im Jahr 1945 auf dem Dresdener Heidefriedhof teil und prägte dort das Bild. Die jüdische Gemeinde, die lange ebenfalls an dem Gedenken teilgenommen hatte, blieb diesem Ende der 2000er Jahre aus Protest gegen die Neonazi-Beteiligung schließlich fern. Die Entkontextualisierung der Dresdener Bombardierung auf den Gedenkfeiern und der bereits seit dem Nationalsozialismus gepflegte Opfermythos Dresdens machten es der extremen Rechten leicht, mit ihrer Geschichtspolitik an das städtische Gedenken anzuknüpfen.

Rechte Geschichtskampagnen – ein Blick zurück

Seit jeher ist Geschichtspolitik in Deutschland ein zentrales Politikfeld der extremen Rechten. Diese bewegt sich dabei immer auch in gesamtgesellschaftlichen Kontexten und muss daher auch in diesem Rahmen betrachtet werden – denn nur so lassen sich Anschlussfähigkeit und Bedeutung jenseits ihres Milieus beurteilen. In der Weimarer Republik ging es, gemeinsam mit weiten Teilen der Gesellschaft, gegen den Versailler Vertrag, nach 1945 setzte man sich für die juristischen und politischen Interessen der NS-Kriegsverbrecher ein und relativierte und leugnete die deutsche Kriegsschuld. Aber nicht nur Juristen aus der ehemaligen SS oder Verteidiger der Nürnberger Angeklagten traten für eine Begnadigungspolitik ein, sondern auch die Kirchen. Diese kam dann im Dezember 1949 als Straffreiheitsgesetz: Alle vor dem 15. September 1949 begangenen Taten mit Gefängnisstrafe bis zu sechs Monaten oder einem Jahr auf Bewährung wurden amnestiert. Darunter fielen auch Körperverletzungen mit Todesfolge, etwa im Kontext der Novemberpogrome 1938.[1]

Eine der zentralen Figuren neonazistischer Geschichtskampagnen war und ist bis heute Rudolf Hess. Für dessen Freilassung setzten sich seit den 1960er Jahren jedoch bei weitem nicht nur neonazistische Akteure ein, sondern auch Initiativen wie die Hilfsgemeinschaft Freiheit für Rudolf Hess e.V., deren Einfluss bis weit in die sogenannte bürgerliche Mitte reichte. Deren Petition für Heß‘ Freilassung wurde in den 1970er Jahren von über 250.000 Menschen unterzeichnet, darunter auch Prominente und Gegner*innen des NS-Regimes.

Holocaustleugnung in der Publizistik

In den 1970er Jahren häufte sich die neonazistische Publizistik, in der nicht nur geschichtsrevisionistische Forderungen gestellt, sondern die Verbrechen ganz offen geleugnet wurden. Einer der Stichwortgeber war der ehemalige SS-Sonderführer Thies Christophersen[2], der in einer »landwirtschaftlichen Versuchsanstalt« der SS Häftlinge aus Auschwitz bei der Zwangsarbeit beaufsichtigt hatte. In seiner 1973 erstmals erschienenen Schrift »Die Auschwitz-Lüge« bestritt er die Existenz von Gaskammern und behauptete, die Häftlinge seien ordentlich behandelt worden. 1978 zog die Aktionsfront Nationaler Aktivisten (ANS) mit Eselsmasken verkleidet durch Hamburg. Dabei war auf umgehängten Schildern zu lesen: »Ich Esel glaube noch, daß in deutschen KZ Juden ›vergast‹ wurden.« Erst im April 1994 entschied das Bundesverfassungsgericht, dass Holocaustleugnung nicht unter die Meinungsfreiheit fällt. Die NPD hatte eine Beschwerde eingereicht, da ihr eine Veranstaltung mit dem Holocaustleugner David Irving durch die Stadt München beauflagt worden war.3 In den 1990er Jahren folgten die Mobilisierungen gegen die Wehrmachtsausstellung des Hamburger Instituts für Sozialforschung, und einmal mehr wurde die Kritik an der ›Negativdarstellung der Wehrmacht‹ auch von vielen rechtskonservativen Akteuren geteilt. Während das neonazistische Milieu vor allem auf der Straße agierte, widmeten sich rechtskonservative und neurechte Akteure der Vergangenheitspolitik auf publizistischen Wegen. Der Historikerstreit (1986/87) oder auch die Kontroverse um die Rede von Martin Walser in der Frankfurter Paulskirche (1998), während der der Schriftsteller von einer Instrumentalisierung des NS-Gedenkens sprach und eine »Dauerrepräsentation unserer Schande« monierte, sind weitere Meilensteine, zu deren Anlass die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus in der bundesdeutschen Öffentlichkeit (neu) verhandelt wurde.

Gedenkstätten im Fokus

Immer wieder stehen dabei auch die Gedenkstätten im Fokus. Die Erinnerungsarbeit an den authentischen Orten der Verbrechen stehen einer bruchlos positiven Identifikation mit Deutschland im Weg. In der Nacht zum 20. Juli 1969 wurde die Berliner Gedenkstätte Plötzensee, eine Haftstätte der Nationalsozialisten, mit meterhohen Hakenkreuzen beschmiert und die Türen mit Ketten verrammelt. Auf dem Boden hinterließen die Täter ein Hitler-Zitat.[3] Im September 1992 verübte eine Gruppe junger Neonazis einen Brandanschlag auf die »jüdischen Baracken« in der KZ-Gedenkstätte Sachsenhausen, wobei eine der Baracken zum Teil niederbrannte. Auch jüdische Friedhöfe sind bis heute immer wieder von Schändungen betroffen, entsprechende historische Meldungen gibt es sowohl aus der Bundesrepublik, als auch aus der DDR. Bevor die AfD die politische Bühne betrat, schien es zunächst etwas ruhiger geworden zu sein – die großen Neonazi-Mobilisierungen zum Jahrestag der Bombardierung Dresdens, über Jahre hinweg eines der europaweit größten Neonazi-Events, verloren auch durch den breiten Widerstand zunehmend an Attraktivität, die Teilnehmendenzahlen sanken. Auch Angriffe auf Gedenkstätten oder provokative Besuche rechter Akteure waren die absolute Ausnahme. Mit dem Erstarken der AfD und der neuen sozialen Bewegung von rechts wurde auch das Feld der extrem rechten Geschichtspolitik wieder mehr bespielt. So fordert die AfD in ihrem Bundestagswahlprogramm von 2017, die »aktuelle Verengung der deutschen Erinnerungskultur auf die Zeit des Nationalsozialismus (…) zugunsten einer erweiterten Geschichtsbetrachtung aufzubrechen, die auch die positiv identitätsstiftenden Aspekte deutscher Geschichte mit umfasst.« Entsprechende Bemühungen, die stets darauf aus sind, die historische Bedeutung der Verbrechen des Nationalsozialismus zu relativieren finden sich auch in den Bundestagsdebatten. Insbesondere der AfD-Abgeordnete Marc Jongen äußert sich dahingehend immer wieder, etwa wenn er die deutsche NS-Gedenkkultur als »Kultivierung eines Schuldkomplexes« bezeichnet, »der das Land wehrlos macht gegen jede Beleidigung, jede Vergewaltigung und jede Überrollung.«[4] Die Angriffe auf die Erinnerungskultur erfolgen heute kaum noch über Holocaustleugnung, sondern durch beständiges Relativieren.

Mit dem Erstarken der AfD und der neuen sozialen Bewegung von rechts wurde auch das Feld der extrem rechten Geschichtspolitik wieder mehr bespielt.

 

Diese verbalen Attacken auf die Erinnerungskultur, die sich auch über die Provokationen von Höcke und Gauland im Gedächtnis manifestieren, zeigen nicht »nur« diskursive Auswirkungen. So registrieren die KZ-Gedenkstätten einen Zuwachs an Provokationen durch extrem rechte Besucher*innen. Überregional berichtet wurde über einen Eklat, zu dem es während einer Führung mit einer AfD-Besucher*innengruppe in der Gedenkstätte Sachsenhausen im Juli 2018 kam. Teilnehmende der Gruppe störten die Führung durch die Gedenkstätte mit Zwischenrufen, ein Teilnehmer leugnete die Existenz von Gaskammern. Die Führung wurde daraufhin abgebrochen. Andere Gedenkstätten berichten von Hitlergrüßen auf dem Gelände, Hakenkreuzschmierereien im Gästebuch oder gar dem Herausreißen von Grabkreuzen ermordeter KZ-Häftlinge, die anschließend zu einem Hakenkreuz drapiert wurden. Der Leiter der Gedenkstätte Buchenwald, Volkhard Knigge, diagnostizierte jüngst in dieser Frage eine »qualitative Veränderung, eine Radikalisierung in den Auftritten«.

Die letzten Zeitzeug*innen und der Kampf um die Erinnerung

Die Auseinandersetzungen sind dabei jedoch keineswegs auf Deutschland beschränkt, wie etwa die Ereignisse während der Befreiungsfeiern in der NS-Gedenkstätte Ravensbrück verdeutlichen. Hier waren in den letzten Jahren polnische junge Männer zu beobachten, die dominant und teilweise auch aggressiv mit polnischen Nationalfahnen sowie Zeichen der katholisch-nationalistischen sowie antisemitischen Untergrundorganisation Narodowe Siły Zbrojne (NSZ, Nationale Streitkräfte) auftraten. Die NSZ kämpfte ab 1942 sowohl gegen die deutschen und sowjetischen Besatzer als auch gegen die Kommunist*innen im eigenen Land. Während die polnischen Überlebenden und ihre Angehörigen lange Zeit die Gedenkfeiern mit prägten, ist es nun eine neue Generation, die, analog zur nationalistisch ausgerichteten Gedenkpolitik in Polen, die Geschichte neu für sich deutet und aus ihrer nationalistischen und antikommunistischen Einstellung keinen Hehl macht. Da die letzten Überlebenden der Konzentrations- und Vernichtungslager mittlerweile ein sehr hohes Alter erreicht haben und nur noch vereinzelt an den Gedenkfeierlichkeiten teilnehmen oder aktiv historische Bildungsarbeit leisten können, ist hier eine Leerstelle entstanden, die nun auch von diesen Akteuren gefüllt wird.

Barbara Reimann (2013 verstorben), Überlebende des Konzentrationslagers Ravensbrück beim Gedenken anlässlich des 60. Jahrestages der Befreiung des KZ am 17.04.2005. | Foto: Christian-Ditsch.de

Empfehlungen, wie sich Gedenkstätten auf extrem rechte Besuchsgruppen oder auch parlamentarische Vertreter*innen der AfD vorbereiten können, publizierte kürzlich die Mobile Beratung gegen Rechtsextremismus Berlin. Neben der konkreten Vorbereitung sollten sich die Beteiligten über Grundsätze und bestehende Handlungsspielräume austauschen und sich positionieren. Dies lässt sich auch auf die Auseinandersetzung insgesamt übertragen. Letztlich gilt es, die durch den Tod der Zeitzeug*innen entstehende Leerstelle zu besetzen und deren Vermächtnis jenseits aller Rituale aktiv weiter zu tragen.

  1.  Vgl. Norbert Frei, Franka Maubach, Christina Morina, Maik Tändler: Zur rechten Zeit. Wider die Rückkehr des Nationalismus, Berlin 2019, S.25.
  2.  Etliche Primärquellen zu Christophersen lassen sich auch im apabiz finden.
  3.  Die Schändung der Gedenkstätte Plötzensee wird in unserer Ausstellung „Immer Wieder? Extreme Rechte und Gegenwehr in Berlin seit 1945“ näher beleuchtet.
  4.  Plenarprotokoll des Bundestages vom 23.02.2018. Online unter: https://dipbt.bundestag.de/doc/btp/19/19015.pdf