Interview: Kriminologe Tobias Singelnstein über Polizeigewalt

Polizeigewalt wird regelmäßig geleugnet, genauso regelmäßig aber wird sie festgestellt und skandalisiert, auch von Politiker*innen, beispielsweise nach großen Demonstrationen wie den G20-Protesten in Hamburg oder der »Black Lifes Matter«-Demo in Berlin oder wenn Menschen, insbesondere BPOC[1], durch die Polizei erschossen werden, wie Aman Alizada oder Chrissy Schwundeck.

Der Kriminologe Tobias Singelnstein führt an der Ruhr-Universität Bochum ein Forschungsprojekt zu »Körperverletzung im Amt durch Polizeibeamt*innen« durch. Wir haben ihn zum Thema befragt.

apabiz: Ein Grund, warum die Tatsache von Polizeigewalt immer wieder in Frage gestellt werden kann, ist, dass es keine Studien darüber gibt. Warum ist es so schwierig, über Polizeigewalt zu forschen?

Tobias Singelnstein: Lange Zeit wurde die Gewaltausübung nur aus polizeilicher Perspektive untersucht, das Gesetz nennt das den Einsatz »unmittelbaren Zwangs«. Das liegt auch daran, dass rechtswidrige Gewaltausübung lange Zeit gesamtgesellschaftlich gar nicht so sehr als ein Thema gesehen wurde. Dass es eine breitere und kontinuierliche Debatte darum gibt, ist erst seit etwa 20 Jahren der Fall. Das hat auch damit zu tun, dass Gewalt ganz generell gesellschaftlich stärker problematisiert wird – nicht nur im Kontext der Polizei.

Was müsste man denn eigentlich genau untersuchen?

Das hängt davon ab, welchen Aspekt man untersuchen möchte: Es gibt ja ein Hellfeld, das sind die Fälle, die statistisch erfasst werden, weil es zu einem Verfahren kommt. Da kann man sich dann zum Beispiel die Strafverfahren ansehen, wie sehen die Akten aus, wie ist die Beweislage, wie gehen Beamt*innen als Beschuldigte und Zeugen damit um. In unserer aktuellen Studie interessiert uns aber auch das Dunkelfeld, also all die Fälle, bei denen es gar nicht erst zu einem Verfahren kommt. Dafür haben wir eine Betroffenenbefragung gemacht und jetzt im Anschluss führen wir Interviews mit Polizeibeamt*innen und mit Vertreter*innen der Justiz und der Zivilgesellschaft.

Häufig ist der Zugang zur Polizei nicht ganz einfach, wir können uns bei diesem Projekt aber eigentlich nicht beklagen. Wir sind da keineswegs nur auf Ablehnung, sondern auch auf viel Interesse gestoßen mit unserer Forschung. Denn genau so, wie das Thema gesamtgesellschaftlich präsenter geworden ist, ist es das auch innerhalb der Polizei. Gleichzeitig gibt es natürlich eine starke Abwehr in der Organisation gegenüber Kritik von außen, wie man aktuell auch an der Diskussion um Rassismus sieht. Das hat auch damit zu tun, dass es in der Polizei das Selbstbild gibt, immer rechtmäßig zu handeln, das wird durch solche Kritik von außen irritiert. Aber da ist die Polizei ja nicht alleine: Gerade wenn es um strukturellen Rassismus geht, fällt es eigentlich keinem Berufsstand leicht, das anzunehmen und sich damit auseinanderzusetzen. Nur ist das bei anderen Institutionen und Berufen eben nicht ganz so problematisch wie bei der Polizei.

 

 

Gibt es eigentlich Erkenntnisse darüber, in welchen Situationen es besonders häufig zu Polizeigewalt kommt?

Vieles spricht dafür, dass bestimmte etablierte Konfliktverhältnisse eine besondere Rolle spielen, also wenn Polizeibeamt*innen und bestimmte Gruppen bereits Erfahrungen miteinander gemacht haben, die das Bild von der jeweils anderen Seite prägen. Des weiteren kommt es häufiger zu gewaltsamen Auseinandersetzungen, wenn Alkohol im Spiel ist, etwa bei Feiersituationen. Dem Forschungsstand zufolge spielen auch Verfolgungsjagden und der Zutritt zu Wohnungen eine besondere Rolle, z.B. im Kontext von häuslicher Gewalt, was rechtswidrige Gewaltausübung angeht.

Welche Rolle spielt Geschlecht?

Es gibt die These, dass junge Männer auf beiden Seiten das Problem verschärfen, weil dann Situationen in besonderer Weise als Autoritätskonflikte interpretiert werden. Man geht davon aus, dass sich Situationen anders entwickeln, wenn Beamtinnen dabei sind.

Kommt rassistische Polizeigewalt vor allem da vor, wo die Polizei ohnehin gewalttätig agiert oder ist das noch mal ein gesonderter Bereich?

Das wissen wir noch gar nicht so genau. Rassismus und rechtswidrige Gewaltausübung sind als Probleme der polizeilichen Praxis sicher in besonderer Weise miteinander verschränkt. Über die Art und Weise dessen gibt es für Deutschland bislang aber nur wenig empirische Erkenntnisse.

Das Bundesinnenministerium hat nach den Protesten gegen rassistische Polizeigewalt in den USA angekündigt, eine Untersuchung zu Racial Profiling bei der Polizei durchzuführen. Was kann man von so einer Untersuchung erwarten?

Die Ankündigung war in der Tat überraschend. [Die Ankündigung wurde inzwischen wieder zurückgenommen und derzeit ist beim Bundesinnenministerium eine Studie über Gewalt gegen Polizeibeamt*innen im Gespräch. d.Red.] Die Frage ist natürlich, wie so eine Untersuchung dann aussieht. In der Polizei werden zu solchen Fragen zumeist Einstellungsuntersuchungen durchgeführt, wie gerade z.B. bei der Polizei in Hessen, die aber nichts über die Frage aussagen, inwieweit sich bestimmte Einstellungen dann auch in der polizeilichen Praxis niederschlagen. Dazu kommt, dass diese Untersuchungen darauf angewiesen sind, dass die Polizist*innen dabei mitwirken. In Hessen zum Beispiel gibt es eine Rücklaufquote von 25 Prozent. Das ist als Wert gar nicht schlecht. Das Problem ist aber natürlich trotzdem, dass 75 Prozent der Beamt*innen nicht mitgewirkt haben, wobei man von erheblichen Verzerrungen ausgehen muss. Mindestens ebenso interessant wäre daher Forschung, die auf Teilnehmende Beobachtung setzt oder nachvollzieht, wie Einsätze ablaufen oder die Verfahrensweisen untersucht.

Was sind denn eigentlich wirksame Maßnahmen gegen Polizeigewalt?

Die Kennzeichnungspflicht ist eine vieldiskutierte Maßnahme. Unsere Befragung hat gezeigt, dass oft von einer Anzeige abgesehen wird, weil Betroffene keine Chance sehen, die handelnden Beamt*innen zu identifizieren. Auch wird ein erheblicher Teil der Verfahren eingestellt, weil die Beamt*innen nicht identifiziert werden können. Außerdem gibt es verschiedene Konzepte unabhängiger Kontroll-Institutionen, die die Polizei kontrollieren und Beschwerden bearbeiten – da gibt es international viele Vorbilder, an denen man sich orientieren könnte. Am wichtigsten ist aber, dass sich in der Polizei selbst etwas ändert.

Einige Fälle rassistischer Polizeigewalt sind in der Öffentlichkeit sehr bekannt geworden und einige sind ja auch wissenschaftlich untersucht: Dass Oury Jalloh durch rassistische Polizeigewalt in Untersuchungshaft starb und nicht durch Suizid, ist durch verschiedene Untersuchungen belegt, und es erscheint unfassbar, dass das noch immer nicht juristisch aufgeklärt ist. Warum ist das so, warum kann sich da die Wissenschaft nicht durchsetzen?

Dieser Fall ist ja auch in dieser Hinsicht besonders, weil die wissenschaftlichen Untersuchungen erst recht spät erfolgt sind und viele erst Jahre nach Beginn der juristischen Aufarbeitung in den Prozess eingeflossen sind. Das macht es besonders schwierig. Grundsätzlich bin ich überzeugt, dass wissenschaftliche Forschung ein wesentlicher Faktor in der gesellschaftlichen Auseinandersetzung ist. Als Wissenschaftler*innen systematisieren und analysieren wir unter anderem das, was Betroffene von polizeilicher Gewaltausübung erleben als eine Grundlage, um das Problem genauer zu verstehen.

  1.  Black and People of Colour, Selbstbezeichnung von Menschen mit Rassismuserfahrung, vgl. https://glossar.neuemedienmacher.de/glossar/people-of-color-poc/