Foto: Christian-Ditsch.de

Tod in Gewahrsam: Die Kampagne Death in Custody

Mit der Kampagne Death in Custody will ein großes Bündnis antirassistischer Initiativen[1] auf ungeklärte Todesfälle in Polizeigewahrsam aufmerksam machen, denen mutmaßlich rassistische Motive zugrunde liegen. Wir haben das Bündnis gebeten, ihre Kampagne vorzustellen.

von der Kampagne Death in Custody

Koloniale Realitäten und Widerstand in Deutschland

Dessau Rosslau, 22. Januar 2005: Unter dem Motto »In Gedenken an Oury Jalloh — Gegen staatlichen Rassismus und diskriminierende Polizeipraktiken« demonstrieren etwa 150 Menschen in Dessau, nachdem die Familie von Oury Jalloh, Freund*innen und Unterstützer*innen zusammen mit Aktivist*innen von TheVoice, Karawane und Plataforma dazu aufgerufen hatten. Kurz zuvor war Oury Jalloh in einer Gefängniszelle von Polizeibeamten ermordet worden. Die zentrale Forderung, die an diesem Tag auf unterschiedlichen Transparenten zu lesen ist: »Break the Silence! Aufklärung, Gerechtigkeit und Entschädigung!«

Frankfurt am Main, 2. Juni 2012: Unter dem Motto »Aufklärung, immer noch!« versammeln sich hunderte Menschen, um Christy Schwundeck zu gedenken, die am 19. Mai 2011 im Jobcenter im Frankfurter Gallusviertel von Polizisten erschossen wurde. Die Protestierenden skandieren immer wieder laut und wütend: »Menschen sterben und ihr schweigt«. Auf Transparenten fordern sie die lückenlose Aufklärung des Falls.

Berlin, 5. Juli 2019: In der M*straße versammeln sich immer mehr Menschen, die Kampagne Black Lives Matter hat zu einem Protestmarsch aufgerufen. Die zentrale Forderung: Ein Ende der Gewalt an Schwarzen Menschen. Innerhalb einer halben Stunde füllt sich die Straße vollständig. Unzählige Plakate mit der Aufschrift »Black Lives Matter« und »Rassismus tötet« sind zu sehen.

In Deutschland leisten seit Jahrzehnten Betroffene, Angehörige, Freund*innen und Initiativen Widerstand gegen strukturellen Rassismus, der auch in Deutschland tötet. Sie veranstalten Kundgebungen, drucken Plakate, gehen auf die Straße, um auf die strukturelle Gewalt hinzuweisen. Deutschland hat nicht nur ein »Rassismusproblem«, Deutschland ist ein rassistisch strukturierter Staat, in dem vor Polizei und Behörden nicht alle Menschen gleich sind.

Berlin, 6. Juni 2020: Am Alexanderplatz kommt es zu Massenprotesten. Anlass ist der Mord an dem Schwarzen Amerikaner George Floyd durch vier Polizisten in Minneapolis. Obwohl in Deutschland sonst nicht unbedingt umfangreich von rassistischen Morden durch Polizei oder Behörden berichtet wird, ist dieses Mal das mediale Interesse groß, Journalist*innen wollen wissen: Gibt es solche Fälle auch in Deutschland?

 

 

Wie die meisten westeuropäischen Staaten hat sich die Bundesrepublik Deutschland mit der Entstehung kolonialer und kapitalistischer Verhältnisse in der Welt ausgeformt. Justiz, Polizei und Behörden sichern seither materielle Verhältnisse in Deutschland, diese unterliegen bis heute einer kolonialen Ordnung: Teilhabe rassifizierter Menschen am Wohlstand westlicher Gesellschaften wird an den EU-Außengrenzen aber auch im Landesinneren durch Ausbeutung und Segregation – zum Beispiel im Bildungssystem – verhindert. Rassistische Ausgangspositionen begründen die bestehenden Verhältnisse, rassistische Gesetze und Praxen sichern sie ab. Auch Menschen, deren Familien in den 60ern und 70ern als Gastarbeiter*innen angeworben wurden und die von Geburt an in Deutschland leben, sind massiv von Rassismus betroffen. Sie werden von Staat und Justiz systematisch kriminalisiert und diskriminiert. Betroffene, Angehörige und Aktivist*innen verweisen seit Jahrzehnten kritisch auf die bestehenden Strukturen. Sie fordern eine Anerkennung der eigenen Geschichten, ein Ende der Gewalt, die Transformation der Gesellschaft, eine Öffnung der Grenzen und die Legalisierung von Zuwanderung.

Die Kampagne Death in Custody (DiC) – Recherche[2], Vernetzung, Erinnerung

Institutioneller Rassismus tötet auch in Deutschland. Todesfälle in Gewahrsamssituationen werden jedoch nicht zentral erfasst. Bereits bestehende Erhebungen differenzieren nicht, ob es sich bei den Toten um Schwarze Menschen oder People of Color handelt.

Daher haben mehrere antirassistische Organisationen und Initiativen aus Berlin zum Black History Month 2019 als Bündnis  die Kampagne »Death in Custody — Tod in Gewahrsam« ins Leben gerufen. Die Kampagne soll diese Lücke durch eigene Recherchen schließen und mit vereinten Kräften das Problem rassistischer Staatsgewalt in die deutsche Öffentlichkeit tragen, um sichtbar zu machen, wie häufig und kontinuierlich nicht-weiße Menschen in Deutschland in Gewahrsam sterben. Die Kampagne will vor allem die Perspektiven derjenigen zeigen, die von Rassismus betroffenen sind und Initiativen und Unterstützer*innen vernetzen.

Was bedeutet koloniale Kontinuität konkret? Bisher hat die Kampagne seit dem Jahr 1990 über 160 Todesfälle in Gewahrsam recherchiert. Die Recherchen beziehen sich hierbei auf alle Menschen, die aufgrund von rassifizierenden Zuschreibungen als »anders« und dadurch aus Perspektive von Polizei und Staatsapparat als potentiell »kriminell«, »gefährlich« oder »illegal« markiert werden.

Etwa die Hälfte aller bislang recherchierten Todesfälle sind in Haft und Abschiebehaft zu verorten; als Todesursache nennen die Behörden in diesen Fällen meistens »Suizid«.

Diese ersten Befunde ergeben, dass etwa ein Drittel der Fälle auf physische Gewaltanwendungen der Polizei zurückzuführen ist (z.B. tödliche Polizeischüsse, Brechmittelfolter). Etwa die Hälfte aller bislang recherchierten Todesfälle sind in Haft und Abschiebehaft zu verorten; als Todesursache nennen die Behörden in diesen Fällen meistens »Suizid«. Auch diese Fälle nimmt die Kampagne in die Chronik auf, denn in totalen Institutionen wie Gefängnissen kann es keine freie Entscheidung zum »Freitod« geben. Zudem darf dem behördlichen Narrativ nicht ohne Weiteres geglaubt werden. Dies beweist der Fall Oury Jalloh, bei dem staatliche Behörden nach wie vor trotz erdrückender Beweislast behaupten, dass der Ermordete sich selbst angezündet habe. Unabhängige Gutachten schließen längst eine Selbstanzündung aus. Die Einordnung als Selbsttötung ermöglicht nicht nur in diesem Fall die Vertuschung staatlicher Gewalt.

Was ist Gewahrsam?

Die Kampagne bezieht sich mit dem Begriff »custody« auf einen breiten Gewahrsamsbegriff. Erfasst sind davon zunächst alle räumlichen Situationen, in denen Personen an einem Ort sterben, an dem sie auf staatliche Anordnung und gegen ihren Willen festgehalten wurden und der »Obhut« des Staates oder Strukturen mit vollständigen Zugriffsmöglichkeiten anvertraut  sind (Gefängnis, Polizeigewahrsam, Psychiatrie, etc.).

Gewahrsam hat für die Kampagne zudem eine akteursbezogene Dimension. Ein »death in custody« liegt demnach auch vor, wenn Akteur*innen des staatlichen Gewaltmonopols unmittelbar den Tod einer Person insofern verantworten, als dass sie eine ausweglose Situation schaffen, aus der sich die Person nicht lebend befreien kann. Aus diesem Grund werden auch polizeiliche Todesschüsse, Tod durch physische Gewaltanwendung und Todesfälle auf der unmittelbaren Flucht vor der Polizei erfasst.

Bei der Recherche fällt auf, dass insbesondere tödliche Polizeischüsse häufig dadurch gerechtfertigt werden, dass die Erschossenen zuvor mit einem Messer bewaffnet gewesen sein sollen. Auch solche Fälle nimmt die Kampagne auf, denn auch dieses polizeiliche Narrativ darf nicht nicht ungeprüft übernommen werden, wie die Todesumstände von Husam Fadl zeigen. Die Kampagne ist davon überzeugt, dass die Polizei entwaffnen kann, ohne sofort zu töten. Nach bisherigem Stand der Recherche sticht heraus, dass fast nie mit Nachdruck gegen mutmaßliche Täter*innen ermittelt und Anklage erhoben wird; noch seltener kommt es zu Verurteilungen.

Der Fall Miroslawa K. — Tod in Gewahrsam unter ungeklärten Umständen

Neben den bereits bekannteren Fällen gehen die Recherchen der Kampagne auch gerade denjenigen Todesfällen nach, die schon weiter in der Vergangenheit liegen und wenig öffentliche Aufmerksamkeit bekommen haben. Ein Beispiel ist der Todesfall von Miroslawa K., einer Frau mit polnischem Pass, die am 6. Mai 1993 in einer Zelle des Bundesgrenzschutzes auf dem Gelände des Rhein-Main-Flughafens Frankfurt durch Ersticken verstorben ist. Sie wurde 59 Jahre alt.

Sie war auf dem Weg zu einer Papstaudienz bei einem Zwischenstopp in Frankfurt gewesen. Dort wurde sie vermutlich Opfer eines Gepäckdiebstahls, denn sie trug weder Gepäck noch Papiere oder Geld bei sich, als sie in aufgeregtem Zustand als vermeintliche Asylbewerberin zur Polizeiwache in den Transitbereich des Flughafens gebracht wurde. Dort wurde sie in eine Gewahrsamszelle geschlossen. Später entkleideten sie zwei Beamtinnen und ließen sie nach einer Durchsuchung nackt in der Gewahrsamszelle zurück. Dort beging Miroslawa K. nach Behördenangaben »Suizid«. Die konkreten Todesumstände sind jedoch bis heute nicht aufgeklärt, obwohl der damals festgestellte Zustand der Leiche Anlass dazu gibt, die Suizid-These zumindest zu bezweifeln.

Aus dem Rachen der Toten entfernte der Notarzt drei blaue Stoffstücke (2 cm x 5 cm) und ein 40 cm langes Textilband, in der Speiseröhre und im Magen fanden Pathologen Bruchstücke ihres Gebisses. Mit Blutergüssen am Körper und Verletzungen am Mund trug die Leiche Spuren etwaiger körperlicher Misshandlung. Die Stoffstücke aus dem Rachen wurden weder in darauffolgenden Untersuchungen noch in den Äußerungen der Staatsanwaltschaft erwähnt. Stattdessen verkündete die Staatsanwaltschaft die These, dass Miroslawa K. in »religiösem Wahn« ein Schmuckband mit Heiligenbildern verschluckt habe. Noch Jahre nach ihrem Tod fordern Menschenrechtsvereine den Einsatz einer internationalen Untersuchungskommission, um die Geschehnisse zu überprüfen.

Die Vielfalt der Todesfälle weist auf unterschiedliche Aspekte des institutionellen Rassismus in Deutschland hin und die Recherchen zeigen, dass das Problem Polizeigewalt intersektional gedacht werden muss. Schwarze Menschen, PoCs und Menschen ohne deutschen Pass sind durch Racial Profiling besonders häufig von Polizeimaßnahmen betroffen. Das führt im Vergleich zur weiß-deutschen Mehrheitsgesellschaft zu einem größeren Risiko, in Polizeigewahrsam zu kommen, der im schlimmsten Fall tödlich endet. Das Risiko steigt, wenn es zu einer Überschneidung mit anderen Machtverhältnissen kommt und Menschen zum Beispiel durch zusätzliche Prekarisierung oder psychische Ausnahmezustände von mehrfacher Diskriminierung betroffen sind.

Die Vielfalt der Todesfälle weist auf unterschiedliche Aspekte des institutionellen Rassismus in Deutschland hin und die Recherchen zeigen, dass das Problem Polizeigewalt intersektional gedacht werden muss.

Zudem zeigt die bisherige Recherche einen hohen Anteil von Menschen, die in Abschiebegefängnissen sterben. Abschiebehaft sowie Haft wegen »illegaler Einreise« und »illegalen Aufenthalts« betreffen ausschließlich Menschen ohne deutschen Pass.

Kein Vergeben, kein Vergessen — der antikoloniale Widerstand geht weiter

Anlässlich des internationalen Tages gegen Polizeigewalt am 15. März 2020 hatte die Kampagne eine Demonstration und eine Vernetzungskonferenz geplant. Verschiedene Initiativen, die zu dem Thema death in custody arbeiten, wurden eingeladen, um über ihre Arbeit und Erfahrungen zu referieren, sich auszutauschen und zu vernetzen. Durch den Ausbruch der Covid-19-Pandemie und die einhergehenden Beschränkungen musste die Kampagne beide Veranstaltungen aufs nächste Jahr verschieben; bis dahin unterstützt sie Initiativen und Organisationen, die zu diesem Thema arbeiten.

Das Sterben durch Gewahrsamssituationen muss aufhören. Die Kampagne Death in Custody fordert deshalb Aufklärung, Rechenschaft und Etablierung von effektiven Schutzmechanismen. Dies wären erste wichtige Schritte, um mit der kontinuierlichen kolonialen Gewalt zu brechen.

Weitere Informationen und die bisherigen Rechercheergebnisse sind auf unserem Blog zu finden.
Twitter: @diccampaignDE
Instagram: @deathincustodyDE
Facebook: @deathincustodyDE

  1.  Das wachsende Bündnis besteht bislang aus den Initiativen Kampagne für die Opfer rassistischer Polizeigewalt (KOP), Initiative Schwarze Menschen in Deutschland e.V. (ISD), ReachOut Berlin, Migrationsrat Berlin e.V., We are born free Community Radio, Justizwatch, Rote Hilfe Ortsgruppe Berlin, Bündnis gegen Rassismus (Berlin), Hände weg vom Wedding, Initiative in Gedenken an Oury Jalloh, Each One Teach One e.V., BDB e.V., GG/BO Soligruppe Nürnberg, Criminals for Freedom Berlin.
  2.  Zu den genutzten Quellen gehören u.a.: Dokumentation der Antirassistischen Initiative e.V. »Bundesdeutsche Flüchtlingspolitik und ihre Folgen«, die jährliche Liste polizeilicher Todesschüsse der CILIP, die Dokumentation zu polizeilichen Todesschüssen der taz. Eine ergänzende Darstellung der Recherchegrundlagen ist auf dem Blog der Kampagne Death in Custody zu finden.