Rund 5000 so genannte »Lebensschützer« beim Marsch für das Leben am 20. September 2014 in Berlin.  Foto: apabiz

Auf Druck von rechts: Schädliche Studie

Die aktuellen politischen Beschlüsse über Schwangerschaftsabbrüche kritisierend veröffentlichen wir hier das Kapitel zu der »Lebensschützer«-Propaganda des sogenannten Post-Abortion-Syndroms aus unserem Buch »Kulturkampf und Gewissen.«

Von Eike Sanders und Kirsten Achtelik

Der Beschluss der Großen Koalition und des Kabinetts, den »Werbeverbot« genannten Paragrafen 219a StGB nur zu reformieren und nicht abzuschaffen, ist ein Erfolg für die (rechts-)konservativen Kräfte und damit auch für die »Lebensschutz«-Bewegung. Für Ärzt*innen und ungewollt Schwangere schafft die Ergänzung des § 219a eine bittere Rechtssicherheit, die nun die Grenzen der Informationsfreiheit für Frauen* in all ihrem Paternalismus festschreibt: Ärzt*innen sollen nun auf ihrer Webseite mitteilen dürfen, DASS sie Abbrüche durchführen – WIE sie das machen, soll dann aber durch Links zu Listen von Ärzt*innenkammern oder der BZgA recherchiert werden müssen.

Erschreckend ist auch, dass der Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) insgesamt fünf Millionen Euro für eine Studie über die »seelischen Folgen« von Schwangerschaftsabbrüchen bekommt – also das, was die »Lebensschutz«-Bewegung als »Post-Abortion-Syndrom« bezeichnet. Das hat laut Presseberichten das Kabinett am vergangenen Mittwoch beschlossen. Die Studie ist nicht nur überflüssig, weil es schon ausreichend wissenschaftliche Erkenntnisse dazu gibt, dass es kausale negative »seelische« Folgen von Abtreibungen in Form des Post-Abortion-Syndroms NICHT gibt. Sie ist vor allem ein weiteres Signal an Frauen*, dass uns nicht zugetraut werden kann, uns selbst zu informieren, abzuwägen und einfach die für uns richtige Entscheidung über die Vorgänge in unseren Körpern zu treffen.

Die zur Studie führende Annahme, Frauen* müssten zwangsläufig unter Abbrüchen leiden – die meisten hingegen berichten von »Erleichterung« nach dem Abbruch – , verdeutlicht die Naturalisierung des Geschlechts – also die biologistische Verknüpfung von Frau*- und Mutter-Sein. Sie erhöht die Entmündigung und damit Schikanierung ungewollt Schwangerer und aller potenziell Betroffenen. Sie führt uns zurück in Zeiten der moralischen Stigmatisierung von Schwangerschaftsabbrüchen und zur Tabuisierung. Das ist das Ziel der »Lebensschutz«-Bewegung, das ist ihre Sprache, die sich in der Reform um den § 219a und der angestrebten Studie wiederfindet und die nun völlig faktenwidrig in die öffentliche Debatte gespült wird.

Deshalb veröffentlichen wir aus aktuellem Anlass hier das Kapitel zum sogenannten Post-Abortion-Syndrom aus unserem Buch »Kulturkampf und Gewissen. Medizinethische Strategien der ‚Lebensschutz‘-Bewegung.« (Verbrecher Verlag, März 2018, S. 58-61.)

3.4 PAS: »Frauen sind Opfer von Abtreibungen«[1]

Nun kämpft die »Lebensschutz«-Bewegung zu recht mit dem Stigma der Frauen*feindlichkeit und sieht sich einem breiten gesellschaftlichen Konsens gegenüber, der eine offene Benachteiligung und Diskriminierung von Frauen* ablehnt. Deswegen werden die »Lebensschützer« nicht müde darin, absolute Parteinahme für »die Frauen« zu behaupten: Damit keine einzige Schwangere sich mehr gezwungen sehe, abtreiben zu müssen, wolle man »weiterhin radikal und fundamental solidarisch mit Frauen im Schwangerschaftskonflikt bleiben« – so definierte der Vorsitzende der »Lebensschutz«-Organisation pro Femina e.V., Kristijan Aufiero, »was es heißt ‚pro life‘ zu sein« auf dem Pro-Life Forum in Budapest am 27. Mai 2017.[2] Dennoch bleibt das übergeordnete Motto »Hilfe statt Abtreibung«, und alle Hilfsangebote zielen ausschließlich darauf ab, dass die Frauen* sich für die Fortführung der Schwangerschaft entscheiden.[3] Das Konzept schließt somit die Solidarität mit Frauen*, die sich aus welchen Gründen auch immer für einen Abbruch entscheiden, aus.

Aus der christlich-fundamentalistischen Vorgabe, Abtreibung sei eine Sünde, leitet sich die Idee ab, Frauen* müssten und würden die Entscheidung dazu bereuen. Da Frauen* nicht mehr allzu offen als »Mörderinnen« stigmatisiert werden (sollen), wird ihnen die Möglichkeit einer freien Entscheidung abgesprochen: Angeblich würden sie durch die Erzeuger, die Eltern und das soziale Umfeld zum Abbruch gedrängt.[4] Die Bewegung wird nicht müde zu betonen: »Eine Abtreibung hat immer mindestens 2 Opfer, das Kind und die Mutter.«[5] Die angenommene Reue pathologisierend argumentiert die »Lebensschutz«-Bewegung häufig mit Folgeerkrankungen, die Frauen nach einer Abtreibung hätten.[6] Dabei führen »Lebensschützer« ein von ihnen erfundenes Post-Abortion-Syndrom (PAS) an, das ähnlich einer posttraumatischen Belastungsstörung zu Depressionen bis hin zum Suizid führe. »Die Verlusterkrankung nach Abtreibung […] zeigt Symptome wie Angst, Depression, Schuldgefühle, Partnerschaftskonflikte, Sexualstörungen, körperliche Erkrankungen und Beziehungsstörungen zu geborenen Kindern.«[7] Der Begriff kam erstmals Anfang der 80er Jahre in den USA auf und gehört heute zur zentralen Argumentationskette von Abtreibungsgegner*innen. Ein Zusammenhang zwischen Abtreibungen und psychischen und physischen Folgen wird hingegen in verschiedenen internationalen Metastudien verneint. Weder das medizinische Diagnoseschema ICD-10 noch das psychologisch-psychiatrische Diagnoseschema DSM-5 beinhalten ein Post-Abortion-Syndrom. Es wird von keiner seriösen medizinischen oder psychiatrischen Vereinigung anerkannt.[8] Dennoch ist das angebliche PAS immer noch zentraler Baustein in der Argumentation der »Lebensschutz«-Bewegung: Die Jahrestagung der Ärzte für das Leben (ÄfdL), die in Kooperation mit der Aktion Lebensrecht für Alle (ALfA) im Mai 2017 in Fulda ausgerichtet wurde, war der »Auseinandersetzung mit den Folgen der Abtreibung für betroffene Frauen und ihre Angehörigen« gewidmet. Dort heißt es in der Ankündigung: »Obwohl vehement versucht wird, die Existenz des PAS zu leugnen, mehren sich in der Fachliteratur Berichte über seine Bedeutung für die Frauengesundheit.«[9] Referentin ist das ÄfdL-Vorstandsmitglied Dr. Angelika Pokropp-Hippen, die Ärztin, Psychotherapeutin und Katholikin ist: »Spezielle psychotherapeutische Hilfe bietet sie für Frauen (und Männer) an, welche an der Folgeerkrankung nach Abtreibung, dem Post Abortion Syndrom, leiden«[10], heißt es auf der Homepage der Praxis von ihr und ihrem Mann.

Deutlich wird die Ausblendung der notwendigen Zustimmung der schwangeren Frau*, ihren Körper diesem anderen, werdenden »Menschen« zur Verfügung zu stellen. So wird die Möglichkeit negiert, dass die Entscheidung, dies (zu jenem Zeitpunkt) nicht zu tun, subjektiv – und das muss der einzige Maßstab sein – richtig sein kann. Eine Studie in den USA hat 2015 diese Vorstellung vom zwangsläufigen Bereuen widerlegt: Zwar sagten 53 Prozent der Frauen, dass ihnen die Entscheidung »schwer« bis »sehr schwer« gefallen sei. Aber nach drei Jahren gaben 95 Prozent der Frauen an, dass sie ihre Entscheidung nicht nur nicht bereuen, sie sprachen hingegen eher von »Erleichterung«.[11] Dies korrespondiert mit vielen Erfahrungsberichten und Studien auch im deutschsprachigen Kontext. Deutlich wird auch, dass die Zeit vor dem Termin des Abbruchs als wesentlich belastender erlebt wird als der Eingriff selbst oder die Zeit danach. Fundamental wichtig für das Wohlergehen der Frau* sind guter Zugang zu Informationen, um die Entscheidung selbstbestimmt und individuell verantwortlich zu treffen, eine wohlwollende und soziale Akzeptanz ihrer Entscheidung im persönlichen Umfeld sowie eine ausreichende medizinische und menschliche Betreuung.[12] »Ich hatte nie das Gefühl, dass ich da irgendetwas ‚bewältigen‘ musste. Die Situation war für mich beide Male klar. Ich erzähle davon aber kaum jemandem und frage mich, warum ich das für mich behalte. Ich glaube, aus Angst, von anderen dafür verurteilt zu werden. Das ist der einzige Konflikt, den ich habe.«[13] Ein Ende der stigmatisierenden Pathologisierung, wie sie Teile der »Lebensschutz«-Bewegung betreiben, würde den Frauen* also mehr helfen als keine Abbrüche vorzunehmen.

  1.  Z.B. BVL (2007): »Frauen sind auch Opfer der Abtreibung«, BVL Online vom 20.09.2007, hxxp://www.bv-lebensrecht.de/aktuell/einzelansicht/article/auch-frauen-sind-opfer-der-abtreibung.html; letzter Zugriff am 21.01.2018. Eindrückliches Beispiel ist auch der »Lebensschutz«-Verein Rahel e.V. hxxp://www.rahel-ev.de/hilfe-nach-abtreibung/; letzter Zugriff am 21.01.2018.
  2.  Aufiero, Kristijan (2007): »Was es heißt, ‚pro life‘ zu sein!«, 1000plus Online hxxps://www.1000plus.net/sites/default/files/resources/files/Budapest_Rede_Deutsch.pdf; letzter Zugriff am 21.01.2018.
  3.  Vgl. hxxps://www.1000plus.net/was-wir-tun/beratung-hilfe; letzter Zugriff am 21.01.2018.
  4.  Vgl. zum Beispiel das Buch von Kempf, Martina (2012): Frauenfeindlich – Wie Frauen zur Ungeborenentötung gedrängt werden. Bad Schussenried: Gerhard Hess Verlag. Kempf ist ALfA-Mitglied, war früher Regionalverbandsvorsitzende der christlichen Kleinstpartei AUF und ist jetzt in der AfD Baden-Württemberg aktiv, u.a. Mitglied im Bundesvorstand der Christen in der AfD (ChrAfD); hxxp://www.chrafd.de/index.php/ueber-uns/bundesvorstand/martina-kempf; letzter Zugriff am 21.01.2018.
  5.  Bericht vom Marsch für das Leben 2013 von Durchblick e.V. hxxp://www.verein-durchblick.de/index.php/component/content/article/17-allgemein/aktuelles/1035-ein-deutliches-zeugnis-fuer-das-leben; letzter Zugriff am 21.01.2018.
  6.  So berichtet die Hebamme Tamar Küchler auf der Abschlusskundgebung des Schweigemarsches für das Leben in Annaberg-Buchholz am 6. Juni 2016: »Dann hab ich ihr (der Schwangeren) erklärt, was genau bei einer Abtreibung passiert, das sind auch Fakten. Und ich hab ihr von meinen Erfahrungen als Hebamme berichtet, welche körperlichen Folgeschäden auftreten können, und welche psychischen Folgen immer auftreten. Ich bin Hebamme geworden, weil es mir wichtig ist, Frauen zu unterstützen und weil ich weiß, was nach einer Abtreibung läuft, kann ich auch von Frauenseite her eine Abtreibung nie unterstützen. Ich habe für diese junge Frau gekämpft und für das Ungeborene. Und viele haben gebetet in diesen Wochen der Entscheidung.« Audiomitschnitt und Transkript apabiz e.V.
  7.  hxxp://www.dr-hippen.de/angebote/schwangerschaft/; letzter Zugriff am 21.01.2018.
  8.  Vgl. pro familia Bundesverband (2017): Schwangerschaftsabbruch – Fakten und Hintergründe. Online: https://www.profamilia.de/fileadmin/profamilia/verband/Hintergrund-Schwangerschaftsabbruch-WEB.pdf, S. 19f; letzter Zugriff am 21.01.2018.
  9.  Ärzte für das Leben (2017): Folgen der Abtreibung für Betroffene und Angehörige. Flyer zur 22. Jahrestagung des Vereins Ärzte für das Leben e.V. in Kooperation mit der Aktion Lebensrecht für Alle im Rahmen ihres Jubiläums: »40 Jahre für das Leben« 19. bis 21. Mai 2017 in Fulda. Online: hxxps://aerzte-fuer-das-leben.de/pdftexte/aefdl-programm-fulda-2017.pdf; letzter Zugriff am 21.01.2018.
  10.  hxxp://www.dr-hippen.de/ueber-uns/; letzter Zugriff am 21.01.2018.
  11.  Rocco, Corinna H. et al. (2015): »Decision Rightness and Emotional Responses to Abortion in the United States: A Longitudinal Study, Plos One« online: http://journals.plos.org/plosone/article/file?id=10.1371/journal.pone.0128832&type=printable; letzter Zugriff am 21.01.2018.
  12.  Vgl. z.B.: Knopf, Marina / Mayer, Elfie Mayer / Meyer, Elsbeth (1995): Traurig und befreit zugleich – Psychische Folgen des Schwangerschaftsabbruchs. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. Und aktuell pro familia (2017).
  13.  E., zitiert in Schweiger, Petra (2015): Schwangerschaftsabbruch. Erleben und Bewältigen aus psychologischer Sicht. In: Busch, Ulrike / Hahn, Daphne (Hg.): Abtreibung. Diskurse und Tendenzen. Bielefeld: transcript: 235-257, hier: S. 252.