Vier Jahre Bolsonaro waren vier zu viel

Rezension: Niklas Franzen: Brasilien über alles. Bolsonaro und die rechte Revolte, Assoziation A 2022, 207 Seiten, 18 €

Von Kilian Behrens

Seit nunmehr vier Jahren wird Brasilien vom extrem rechten Präsidenten Jair Messias Bolsonaro regiert, der im Oktober auf seine Wiederwahl hofft. Wie katastrophal dessen Bilanz ausfällt, beschreibt die Veröffentlichung von Niklas Franzen.

Die Stärke des Buches liegt in der Vielschichtigkeit der Stimmen, die der Autor für seine Reportagen eingefangen hat. Franzen, u.a. Korrespondent für »taz« und »nd«, interviewt sowohl Oppositionelle als auch Bolsonaro-Fans und zeichnet so das Bild der zutiefst gespaltenen Gesellschaft eines Landes, in dem massive soziale Ungleichheit, Rassismus und Umweltzerstörung Alltag sind, in dem evangelikale Kirchen immer mehr an Einfluss gewinnen und in dem die Polizei allein 2020 mehr als 5600 Menschen tötete, in der Regel bei Einsätzen gegen Drogenkriminalität. »In diesem Krieg, der eigentlich kein Krieg ist, stirbt eine ganze Generation. Das Profil der meisten Opfer: arm, jung und schwarz.«, schreibt der Autor. (S. 116) Hinzu kam zuletzt der katastrophale Umgang der Regierung mit der Corona-Pandemie. Diese forderte in Brasilien bis heute circa 680.000 Tote. Nur in den USA starben noch mehr Menschen an COVID-19.

Franzen zeigt, wie Bolsonaro auf ständige Provokationen und das Aushöhlen demokratischer Rechte setzt. Dabei hält der Präsident auch mit seinen Sympathien für die brutale brasilianische Militärdiktatur (1964-1985) nicht hinter dem Berg, die bis heute verharmlost oder von einigen gar als »Revolution gegen den Kommunismus« verklärt wird. 2016 gab Bolsonaro in einer Radiosendung zu Protokoll: »Der einzige Fehler war es, dass gefoltert und nicht direkt getötet wurde.« (S. 85) Dabei wäre Aufklärung so wichtig, damit die Bevölkerung wisse, dass »Entführung, Folter und Mord nicht mehr geduldet werden – und sie mit Gerechtigkeit rechnen können«, betont Franzen. (S. 84) Erst 2014 legte eine Wahrheitskommission einen Bericht vor, der die systematischen Verbrechen der Militärs dokumentierte. Aufgrund eines bereits 1979 verabschiedeten Amnestie-Gesetzes musste sich bislang jedoch kein Militär vor Gericht verantworten.

Franzen zeigt auch den gestiegenen Einfluss von (Ex-)Militärs auf die Gesetzgebung auf. So seien aktuell mehr (ehemalige) Militärangehörige in politischen Ämtern als in den Jahren der Diktatur. Während in fast allen Gesellschaftsbereichen Gelder gestrichen wurden, stiegen die Ausgaben für die Streitkräfte. Als »eine der wichtigen Säulen des Präsidenten« analysiert Franzen die evangelikalen Kirchen. (S. 96) Bolsonaro macht in ihrem Sinne Politik, wenn er gegen LGBTIQ* und Feminismus hetzt oder gegen Schwangerschaftsabbrüche kämpft. »Brasilien über alles! Gott über uns!« war sein Wahlkampfmotto 2018. Hier zeigte sich bereits Bolsonaros programmatische Vermischung von Nationalismus und christlichem Fundamentalismus.

Die systematische Schwächung progressiver Institutionen beschreibt Franzen als Kulturkampf. »In keinem anderen Land war die Rechte so erfolgreich darin, den Verschwörungsmythos eines allmächtigen Kulturmarxismus in konkrete Politik zu gießen wie in Brasilien.«, schreibt Franzen. (S. 91) Diese Politik hat konkrete Folgen: Bolsonaro degradierte das Kulturministerium, zu einem nachgeordneten Sekretariat, missliebigen Forschungsdisziplinen an den Hochschulen, allen voran den Geisteswissenschaften, kürzte man die Gelder.

In keinem anderen Land war die Rechte so erfolgreich darin, den Verschwörungsmythos eines allmächtigen Kulturmarxismus in konkrete Politik zu gießen wie in Brasilien. – Niklas Franzen

Das Buch zeigt jedoch auch, dass die aktuellen Probleme Brasiliens keineswegs allein auf die Regierung Bolsonaros zurückzuführen sind. Auch die Arbeiter*innenpartei PT arbeitete mit dem mächtigen Agrobusiness zusammen, das für Monokulturen und die Abholzung des Regenwaldes steht. Ebenso wenig vermochte man es, die Rechte indigener Gruppen zu schützen oder Armen den Zugang zu Land zu garantieren. Die im Buch dokumentierten Stimmen von Akteur*innen aus sozialen Bewegungen, Politik und Kultur, die sich für eine gerechtere Gesellschaft einsetzen, zeigen aber, dass ein »anderes Brasilien« – wie es im letzten Kapitel heißt – machbar ist. Dafür bedarf es weit mehr als Bolsonaros Abwahl, auch wenn dies der erste wichtige Schritt wäre.

Das Buch eignet sich hervorragend für alle, die einen Überblick über die Politik Bolsonaros und die jüngere brasilianische Geschichte suchen. Franzen schreibt im bildhaften Stil einer Reportage. Das macht den Text lebhaft und verständlich. Er zeigt die spezifischen Besonderheiten der aktuellen politischen Lage im größten Land Lateinamerikas auf. Gleichzeitig beschreibt er die Entwicklungen nicht isoliert, sondern als Teil eines internationalen rechten Rollbacks. Verschiedentlich wünscht man sich, dass er noch tiefer in die Analyse der einzelnen thematisierten Politikbereiche eingestiegen wäre. Dennoch: Ein wichtiges Buch, das beim Verständnis des heutigen Brasiliens hilft.