Foto: Kinkalitzken

Virale Umsturzfantasien

Als am 6. Januar 2021 gewalttätige Trump-Anhänger*innen ins Kapitol in Washington D.C. eindrangen, fühlten sich deutsche Beobachter*innen an die Szenen vor dem Bundestag im August 2020 erinnert. Weltweit begreifen extrem rechte Akteur*innen die globale Pandemie als Gelegenheit, ihren Hass zu verbreiten. Für US-amerikanische Milizen waren Anti-Lockdown-Demonstrationen ein wichtiges Rekrutierungsfeld. Auch in Deutschland formierte sich ein für Umsturzfantasien anfälliges, loses Bündnis aus Vertreter*innen einer radikalisierten bürgerlichen Mitte, Verschwörungsideolog*innen und gewaltbereiten Neonazis. Wie erfolgreich die extreme Rechte diese fragilen Zusammenschlüsse für ihre Ziele mobilisieren konnte, hing von ihrer Militanz und der Organisationsfähigkeit ihrer Verbündeten in politischen Machtpositionen ab.

Von Patricia Zhubi

Die Insurrektionist*innen[1], die am 6. Januar 2021 ins Kapitol eindrangen, hatten einen Plan. Nicht alle, die zur Trump-Rally oder einer Alternativ-Kundgebungen angereist waren, mögen davon gewusst haben, doch es gab ihn: Sie wollten die Zertifizierung des Wahlergebnisses durch den Kongress verhindern. Während Trump einer johlenden Menge südlich des Weißen Hauses erzählte, Vizepräsident Mike Pence könne als Sitzungsleiter im Alleingang das Wahlergebnis »rezertifizieren« , versammelten sich drei Kilometer weiter schon die ersten seiner Anhänger*innen vor dem Kapitol – dem Sitz der Legislative. Die Behauptung, das Ergebnis sei gefälscht, hatten Trump und seine republikanischen Helfer*innen schon in die Welt gesetzt, bevor sie die Wahl überhaupt verloren hatten. So verwunderte es nicht, dass mit einer sich abzeichnenden Niederlage konfrontierte Verschwörungsideolog*innen unter dem Motto »Stop the Steal« (Stoppt den Diebstahl) damit begannen, die Stimmauszählung zu stören und Wahlhelfer*innen zu drangsalieren. Mit dabei: extrem rechte paramilitärische Gruppierungen wie die Proud Boys, Oath Keepers, Three Percenters und die lose organisierte, rechtslibertäre Boogaloo Boys Bewegung.

Paramilitärische Gruppierungen hatten während der »Anti-Lockdown«-Demonstrationen und im Zuge der Black Lives Matter (BLM) Proteste zahlreiche Gelegenheiten, für den Fall einer Wahlniederlage Trumps zu proben: Menschen, die nach dem Mord an George Floyd am 25. Mai 2020 gegen Rassismus und Polizeigewalt auf die Straße gingen, sahen sich regelmäßig mit rassistischen Milizen konfrontiert, die von lokalen und überregionalen Behörden toleriert und mitunter aktiv unterstützt wurden. Im August wurde ein Polizist in Wisconsin dabei gefilmt, wie er sich bei einer mit Schusswaffen und taktischer Ausrüstung ausgestatteten Gruppe bedankte (»We appreciate you guys. We really do.«) Eines der Gruppenmitglieder erschoss am selben Abend zwei BLM-Demonstranten und verletzte einen weiteren schwer. Der Täter verstand sich selbst als Mitglied einer Miliz und wurde wenige Monate später in einer Bar mit Mitgliedern der Proud Boys gefilmt. Anstatt die Morde zu verurteilen, rechtfertigte Trump sie als eine Form der Selbstverteidigung.

Ein gemeinsames Ziel

Während sich die Milizen bei BLM-Gegenprotesten als Freund*innen und Helfer*innen der Polizei inszenierten, zeigten sie bei den parallel stattfindenden »Anti-Lockdown«-Demonstrationen ihre Bereitschaft, sich gegen staatliche Institutionen zu wenden; selbst wenn diese die von ihnen propagierten Unterdrückungsstrukturen perpetuieren: Am 30. April 2020 – knapp zwei Wochen nachdem Trump »LIBERATE MICHIGAN!« getweetet hatte – drangen bewaffnete COVID-Leugner*innen in das Landeskapitol ein. Die Demokratische Gouverneurin, Gretchen Whitmer, wurde später Ziel eines rechtzeitig aufgedeckten Entführungsplotts der Wolverine Watchmen Miliz. Zwei der Verdächtigten waren zuvor an der Konfrontation im Landeskapitol beteiligt gewesen.

»Stop the Steal«-Rally in Salem (Oregon) am 7. November 2020 | Foto: Daniel Vincent

Mit »Stop the Steal« gab die Trump-Kampagne dem bereits bei »Anti-Lockdown«–Demonstrationen und BLM–Gegenprotesten geformten, losen Bündnis von Verschwörungsideolog*innen, Impfgegner*innen, christlichen Fundamentalist*innen und extrem rechten Milizen ein gemeinsames, neues Ziel: die Zertifizierung der Wahl zu verhindern. Bevor die Koalition nach D.C. kam, hatten sie bereits in zahlreichen Bundesstaaten Erfahrungen gesammelt: Im November und Dezember 2020 versammelten sich ihre Anhänger*innen vor Wahllokalen in diversen Bundesstaaten, bedrohten Wahlleitende und Gouverneur*innen, versuchten in Landeskapitole einzudringen und organisieren unter dem Motto »Million MAGA March« bereits zwei Demonstrationen in der Hauptstadt bei denen es zu gewaltsamen Auseinandersetzungen mit Gegendemonstrant*innen kam.

Wir kämpfen. Wir kämpfen wie verrückt. Und wenn ihr nicht wie verrückt kämpft, werdet ihr kein Land mehr haben! – Trump am 6. Januar 2021

 

Am 6. Januar 2021 kamen die Insurrektionist*innen schließlich mit kugelsicheren Westen, Helmen, Gasmasken und Plastikhandfesseln ins Regierungsviertel. Waffen sind in der Hauptstadt, anders als in den meisten Bundesstaaten, zwar verboten – dennoch war es einigen gelungen, mit Revolvern ins Kapitol einzudringen. Es war der vorhersehbare Höhepunkt eines seit Monaten schwelenden Konfliktes, der offen in sozialen Medien geplant und vom Regierungsoberhaupt befeuert worden war: »Wir kämpfen. Wir kämpfen wie verrückt. Und wenn ihr nicht wie verrückt kämpft, werdet ihr kein Land mehr haben« sagte Trump seinen Anhänger*innen südlich des Weißen Hauses als einige von ihnen bereits die äußerste Absperrung vorm Kapitol durchbrochen hatten. Anschließend forderte er die nach Schätzungen des Verteidigungsministeriums ca. 30.000 Anwesenden auf, zum Kapitol zu marschieren. Die Bilanz: Laut Capitol Police sollen letztendlich 800 Insurrektionist*innen ins Gebäude eingedrungen sein. Gegenwärtig laufen über 328 Strafverfahren. Bislang konnten die Behörden in 52 Fällen Verbindungen zu extrem rechten Gruppierungen wie den Oath Keepers, Proud Boys und Three Percenters nachweisen. Mindestens 43 Verdächtige haben eine Vergangenheit im Militär; fünf sind aktive und drei pensionierte Polizist*innen. Darüber hinaus wird gegen 29 Kapitolpolizist*innen wegen ihres Verhaltens während der Insurrektion ermittelt.

Eine Konfrontation zwischen Proud Boys und Gegendemonstrant*innen in Portland (Oregon) am 22. August 2020. | Foto: Daniel Vincent

Meanwhile in Germany

Den über Stunden andauernden Ausnahmezustand im US–Kapitol kommentierte der Verschwörungsideologe Attila Hildmann mit den Worten »Haben sie gut von uns DEUTSCHEN abgeguckt!« Allerdings hatte es der Reichsfahnen schwenkende Mob im August 2020 lediglich auf die Außentreppe des Bundestages geschafft, bevor er kurze Zeit später zurückgedrängt wurde. Dennoch sind die Parallelen schwer zu übersehen – ebenso wie die Unterschiede. Seit Anfang 2020 demonstrieren in deutschen Städten sich radikalisierende Bürger*innen Seite an Seite mit Verschwörungsideolog*innen und gewaltbereiten Neonazis gegen die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie. Mit revisionistischen Kampfbegriffen richtet sich der anhaltende Protest gegen den »Faschismus« des »Merkel-Regimes« und die »Corona-Diktatur«. Wie in den USA »Corona-Diktatur«. Wie in den USA mündete die Mobilisierung in dem Versuch, in ein Regierungsgebäude – dem Sinnbild einer sonst kaum greifbaren Staatsmacht – einzudringen und anderen gewalttätigen Ausschreitungen wie dem Durchbrechen einer Polizeisperre in Leipzig. Dies- und jenseits des Atlantiks war die Eskalation durch die nicht gerade klandestine Planung vorhersehbar, die Polizei trotzdem überfordert und schlimmstenfalls kooperativ.

Heilsbringer Trump

Während es den amerikanischen Insurrektionist*innen darum ging, eine existierende Machtposition zu verteidigen, gerieren sich deutsche Corona-Leugner*innen in Oppositionen zu allen etablierten Parteien. Der AfD ist es trotz zahlreicher Versuche, die Mobilisierungserfolge von Querdenken und ähnlichen Gruppierungen für sich zu nutzen, bisher nicht gelungen, aus der Krise Profit zu schlagen. Statt Björn Höcke ist auch in Deutschland Trump der Heilsbringer verschwörungsideologischer Umsturzfantasien. Kurz bevor am 29. August 2020 Reichsbürger*innen, Neonazis und Corona-Leugner*innen das Absperrgitter zur Bundestagstreppe durchbrachen, verkündete eine Heilpraktikerin bei einer Kundgebung direkt vor dem Gebäude, Trump sei nach Berlin gekommen, um das Land von der Merkel-Regierung zu befreien. Während es unter den amerikanischen Insurrektionist*innen einzelne, vorrangig militärisch geschulte Zellen gab, die reale politische Prozesse mit Gewalt unterbrechen wollten, glaubte die Menge vorm Bundestag durch die Ankunft des Heilsbringers Trump bereits gewonnen zu haben.

Akteur*innen aus dem Identitären Spektrum kritisieren QAnon daher neuerdings als strategisch problematischen »Krisenkult.« Compact-Herausgeber Jürgen Elsässer gibt QAnon wiederum die Schuld am »Scheitern« der Insurrektionist*innen in D.C. – und das, obwohl er im August 2020 neben einer vergrößerte Version der aktuellen Compact-Ausgabe, auf der ein großes »Q« prangte, am Brandenburger Tor herumstolzierte. Währenddessen hält die große Mehrheit der QAnon-Anhänger*innen das Eindringen ins Kapitol ebenso wie die Besetzung der Bundestagstreppe für von Geheimdiensten inszenierte Täuschungsmanöver. Doch neben aller Skepsis gibt es auch Stimmen, die sich von den Nachrichten aus D.C. inspiriert fühlten und den Wunsch äußern, dass »den Deutschen auch ein solches Herz wächst wie den tapferen Kämpfern vor dem Kapitol.«

Störung auf Einladung

Wie gefährlich ein effektives Bündnis zwischen politischen Amtsinhaber*innen und extrem rechten Aktivist*innen auch in Deutschland sein kann, zeigte sich am 18. November 2020. Wieder wurde zum Eindringen in den Bundestag aufgerufen; und dieses Mal gab es auch einen Plan, der auf die Störung eines parlamentarisch-demokratischen Prozesses abzielte: Die Abstimmung über das neue Infektionsschutzgesetz. Während die Massen auf der Straße mit Wasserwerfern daran gehindert wurden, den Zugang zum Parlament zu blockieren, gelangten einige rechte Medienaktivist*innen auf Einladung von AfD-Abgeordneten tatsächlich ins Gebäude, wo sie Parlamentarier*innen kurz vor der Abstimmung bedrängten.

Extrem rechte Umsturzfantasien waren und bleiben nach Trump eine Gefahr. Dennoch zeigt das Beispiel USA, was für eine Mobilisierungskraft von Agitator*innen in politischen Machtpositionen ausgeht. Es waren Trumps Versuche, das Ergebnis der Wahl zu kippen, die den heterogenen Zusammenschluss von Verschwörungsideolog*innen und organisierten Milizen auf ein konkretes Ziel fokussierten. Und es war Trumps Weigerung, die Nationalgarde einzusetzen, die den Insurrektionist*innen Zeit gab, hastig evakuierte Büros und Plenarsäle zu durchsuchen. In Deutschland ist es einer ähnlich zusammengesetzten Koalition bislang nicht gelungen, so weit ins Zentrum der politischen Macht vorzudringen. Das liegt jedoch nicht an mangelndem Willen, sondern an fehlender Organisationsfähigkeit. Wie in den USA stellen hier die Verbindungen der extremen Rechten zu Polizei und Militär eine besonders große Gefahr dar – eine Gefahr vor der marginalisierte Gruppierungen gewarnt hatten, lange bevor die extreme Rechte erneut den Angriff auf politische Institutionen wagte.

  1.  Im Text werden die Begriffe Insurrektion/Insurrektionist*innen analog zu den im englischen Sprachraum gebräuchlichen insurrection/insurrectionist verwendet, obwohl diese in Deutschland bisher kaum auf extrem rechte Phänomene angewandt werden. Gängige Übersetzungen wie »Aufständische« wurden als nichtzutreffend empfunden. Die Verwendung der auch im Englischen gleichlautenden Begriffe unterstreicht den transnationalen Charakter der Phänomene.