Foto: Frank Metzger / apabiz

Rassismus der Mitte

Die seit vielen Jahren in der extremen Rechten populäre Idee vom »Großen Austausch« hatte zahlreiche Vorläufer, in Deutschland (West) reichen diese mindestens bis in die 1980er Jahre zurück. Die Idee, dass das »Deutsche Volk« planvoll durch eine elitäre Lobby in eine multikulturelle Gesellschaft umgewandelt wird, vertraten auch als verdienstvoll angesehene Personen der Berliner Stadtgesellschaft.

Von Ulli Jentsch

In Berlin erinnert nicht mehr viel an den Juristen Otto Uhlitz, der im Jahr seines Todes 1987 mit dem Verdienstkreuz 1. Klasse ausgezeichnet wurde. SPD-Mitglied Uhlitz hatte jahrzehntelang in der Berliner Verwaltung gewirkt, an höchster Stelle zum Teil. So war er enger Mitarbeiter in der Senatskanzlei unter Bürgermeister Willy Brandt und später (1968-1975) auch Staatssekretär der Justizverwaltung. Seine Verdienste wurden weithin anerkannt, von irgendwelchen Details seiner politischen Ansichten ist nichts zu erfahren.

Der Rassismus der alten BRD

Seit Ende der 1970er und noch stärker in den 1980er-Jahren – da war der Verwaltungsjurist Uhlitz bereits Beamter im Ruhestand – entbrannte in der alten Bundesrepublik und damit auch in West-Berlin als einem Zentrum der Migration der Streit um die damals sogenannte Ausländerpolitik. Es wurde um die »planvolle Rückführung« der Gastarbeiter genannten Arbeitsmigrant*innen mithilfe von Rückkehrprämien gestritten, um Anwerbestopp, um Familiennachzug und doppelte Staatsbürgerschaft für die bereits lange in Deutschland lebenden Migrant*innen. Damit stand auch eine Frage auf der Tagesordnung, die noch heute zu harten Konfrontationen führt: Ist Deutschland ein Einwanderungsland?

Der öffentliche Ton gegen die Migrant*innen wurde schärfer bis hin zum offenen Rassismus. Bereits damals finden wir im Diskurs jene ideologischen Versatzstücke gegen die Einwanderung, vor allem von Menschen aus islamisch geprägten Ländern, von platten pseudo-biologistischen bis hin zu vermeintlich feinsinnigeren kulturalistischen Phrasen. Im Jahr 1983 hatte sich die Partei »Die Republikaner« (REP) in Abgrenzung zur Union gegründet. Sie wurde zum Sprachrohr vor allem derjeniger, die sich von der veränderten, offeneren Gesellschaft bedroht fühlten und denen die versprochene konservative Wende von Bundeskanzler Helmut Kohl nach dessen Amtsübernahme 1982 nicht weit genug ging.[1]

Anmerkungen zu einem Manuskript

Otto Uhlitz reihte sich in dieser Zeit in die Riege vorwiegend männlicher, wortmächtiger Gegner*innen der Einwanderungsgesellschaft ein. Er verfasste ein Manuskript mit dem Titel »Deutsches Volk oder Multikulturelle Gesellschaft? – Nationalstaat oder Vielvölkerstaat. Von den verfassungsrechtlichen Grenzen der Ausländer- und Einbürgerungspolitik«. In einem Schreiben an den Verleger Bernhard C. Wintzek (MUT-Verlag) schrieb Uhlitz: »Die BR (Bundesrepublik, d.A.) soll in ein Einwanderungsland und in einen Vielvölkerstaat umgewandelt werden und das deutsche Staatsvolk der Republik durch eine ›multikulturelle Gesellschaft‹ ersetzt werden. Gegen diese Bestrebungen wende ich mich mit verfassungsrechtlichen Argumenten. Das ist im Gegensatz zu den vielfach vorgetragenen biologischen Argumenten, die einzige, kaum angreifbare Möglichkeit, die unserem Volke drohenden Gefahren abzuwehren.«[2] Uhlitz hatte vergeblich versucht, seine Schrift, die bereits in der renommierten, SPD-nahen Zeitschrift »Recht und Politik« erschienen war, noch einmal als Buch zu veröffentlichen.

Auf 40 Manuskript-Seiten[3] hatte er seine Sicht dargelegt, warum Deutschland kein Einwanderungsland sein könne. Er kritisierte den »Kurswechsel in der Ausländerpolitik«, die aus einer »Integration auf Zeit« eine »faktische Einwanderungssituation« herstelle. Es seien bereits 1980 die »Weichen in Richtung auf die Umwandlung der Bundesrepublik in eine ›multikulturelle Gesellschaft‹ gestellt«[4] worden. Dies trage Züge eines »Umsturzes von oben«. Man setze sogar unter der Regierung Kohl (CDU/CSU-FDP) nicht auf Assimilation, sondern auf die »Teilhabe der Ausländer an unserem gesellschaftlichen Leben«. Dabei sei doch »Gesellschaft« ein Wort, das »mit Vorliebe« von jenen verwandt werde, die »Berührungsängste« haben, Begriffe wie Volk oder Nation zu verwenden oder aus ihrer »Gesinnung heraus (…) das Geschäft der ›Verneinung und Vernichtung der eigenen Nation‹ betreiben«.[5] Worin die Teilhabe der erwachsenen Migrant*innen an der deutschen Gesellschaft bestehe, darüber würde die Kohl-Regierung keine Angaben machen: »Man könnte polemisch fragen: Genügt hier die Eingliederung in das soziale Netz, etwa die Beweilligung von Sozialhilfe?«.

Islamisierung und Reproduktionsfaktor

Wer Besorgnisse äußere, würde »mit der Keule des ›Faschismus‹-Verdachts bedroht« und »›Sprachregler‹, die bei uns bestimmen, was als ›faschistisch‹ zu brandmarken ist«, würden vielleicht mehr Gesinnungszwang ausüben als »manche verrufene Militärdiktatur«. Zu jenen Besorgnissen gehörte auch schon bei Uhlitz der Hinweis auf die angebliche Tatsache (sic!), dass »diese Ausländer Mitglieder einer im Zuge der Re-Islamisierung verstärkt auf Expansion ausgerichteten Religionsgemeinschaft« seien, die »für alle Bereiche des öffentlichen Lebens einen Absolutheitsanspruch geltend mache«. Und auch bei Uhlitz wird der Hinweis auf die hohe Reproduktionszahl der Eingewanderten gemacht: es gebe die »Befürchtung«, dass die Türkei »ihr Bevölkerungswachstum in die Bundesrepublik« verlagere. Wohin gegen jene, die aus Toleranzgründen die Einwanderung befürworten, zum Teil dieselben seien, die es als human ansähen, dass »jährlich 250.000 ungeborene Kinder im Mutterleib getötet werden«.

Otto Uhlitz war mit seinen Äußerungen zur sogenannten »Ausländerfrage« damals ein bürgerlicher Exponent unter vielen und seine Schrift erregte nicht einmal viel Aufsehen.

Aber »die Etablierung einer ›multikulturellen Gesellschaft‹ auf deutschem Boden ist nicht nur ein Anliegen ausländischer Aktivisten«, wie Uhlitz schreibt, sondern auch einiger Deutscher, bei denen »sicherlich die Ansicht des (…) Herbert Marcuse,« eine Rolle spiele. »Immer mehr ‚deutsche Mitstreiter‘«, so Uhlitz, unterstützen die Forderung, das deutsche Staatsvolk in der Bundesrepublik durch eine ›multikulturelle Gesellschaft‹ zu ersetzen, die Bundesrepublik in einen Vielvölkerstaat umzuwandeln« sowie den bereits eingewanderten Bevölkerungsgruppen »Minderheitenstatus, dauernde Niederlassungsrechte und die deutsche Staatsbürgerschaft« zu verleihen. All diese Forderungen seien verfassungswidrig.

Eingebürgert werden könnten solche, die sich »objektiv nachweisbar« assimiliert hätten, was ja von den derzeitigen Migrant*innen nicht erwartbar sei und wozu sie auch nicht in der Lage seien. Uhlitz spricht von »nicht assimilierbar«, im Gegensatz zu seinen eigenen Vorfahren, böhmische Religionsflüchtlinge in Brandenburg, die eine »Eindeutschung« als selbstverständlich betrachteten. Und schließlich verstoße die Umwandlung in eine ›multikulturelle Gesellschaft‹ auch gegen das Gebot, das deutsche Volk wieder zu vereinigen. Ein Argument, das nur wenige Jahre später ausgedient hatte.

Vorläufer Sarrazins

Uhlitz‘ Schrift fand insgesamt wenig Anklang, die Bundeszentrale für politische Bildung und auch das damalige Bundesministerium für innerdeutsche Angelegenheiten lehnten die Publikation ab. Daher wandte sich Uhlitz an einen damaligen Funktionär der jungen Partei »Die Republikaner«, den Leiter des Bereiches für Energie in der Forschungsabteilung »Umwelt- und Ressourcenökonomie« am Institut für Weltwirtschaft an der Uni Kiel[6], Axel D. Neu. Durch ihn fand Uhlitz die Möglichkeit, seinen Aufsatz in dem bekannten extrem rechten Arndt-Verlag des Dietmar Munier nochmals zu publizieren.[7]

Otto Uhlitz war mit seinen Äußerungen zur sogenannten »Ausländerfrage« damals ein bürgerlicher Exponent unter vielen und seine Schrift erregte nicht einmal viel Aufsehen. Erst Jahre später sollte Thilo Sarrazin, ein weiteres SPD-Mitglied, die folgenschwerste Publikation dieser Art veröffentlichen. Dennoch: Die rassistische Mobilisierung hievte 1989 die Berliner Republikaner mit 7,5 Prozent in das Parlament, ein Dammbruch für die extreme Rechte. Die Wiedervereinigung beendete gleichwohl die Debatten um die deutsche Souveränität vorerst. Die Anteile der westdeutschen, alten Bundesrepublik an der rassistischen Mobilisierung verschwanden im Gedächtnis hinter den Gewalttaten der Baseballschlägerjahre.

  1.  Parallel dazu gab es einen sprunghaften Anstieg der militanten Nazi-Organisierung mit immer mehr gewalttätigen Angriffen. Siehe u.a: https://www.nsu-watch.info/2012/03/terroristische-einzeltater-vereinigungen-der-neonazi-terror-der-achtziger-jahre-in-der-alten-bundesrepublik/
  2.  Schreiben Uhlitz-Wintzek vom 16. Februar 1987 (Archiv ADN im apabiz).
  3.  Das Manuskript liegt aus einem Briefwechsel zwischen Uhlitz und Axel D. Neu in mehreren Fassungen vor.
  4.  Gemeint ist ein Kabinettsbeschluss vom 19. März 1980 der Regierung Schmidt.
  5.  Uhlitz zitiert hier zustimmend Helmut Rumpf.
  6.  In der früheren Version wurde Axel D. Neu hier als Leiter des Kieler Instituts für Weltwirtschaft bezeichnet. Dies wurde hier korrigiert. d.A.
  7.  Der Aufsatz wurde in den Sammelband aufgenommen: Herbert Fischer (Hg.): Aspekte der Souveränität. Kiel 1987. Die Besprechung der Korrekturen führte nach dem Tod von Otto Uhlitz dessen Sohn Manfred durch.