»Involuntary Celibates« – Terror als Akt der Mannwerdung

Rezension: Veronika Kracher: Incels. Geschichte, Sprache und Ideologie eines Online-Kults, Ventil Verlag, Mainz 2020, 237 Seiten, 16 Euro.

Von Patricia Zhubi

Am 23. April 2018 raste Alek Minassian mit einem Klein-Transporter in eine Menschenmenge in der Innenstadt von Toronto, Kanada. Er tötete acht Frauen und zwei Männer und verletzte sechzehn weitere Menschen. Kurz zuvor bekannte er sich auf Facebook zur so genannten »Incel Rebellion«. Die Journalistin und Autorin Veronika Kracher nahm das Attentat zum Anlass, sich in die virtuellen Untiefen jener virulent frauenfeindlichen Subkultur zu begeben, um eine für den deutschsprachigen Raum längst überfällige Antwort auf die Frage »Was sind eigentlich Incels?« zu finden. Nun hat sie die Ergebnisse ihrer Recherche unter dem Titel »Incels. Geschichte, Sprache und Ideologie eines Online-Kults« in Buchform zusammengefasst.

Veronika Krachers Auseinandersetzung mit der von ihr als »Kult« bezeichneten Incel-Szene umfasst 14 Kapitel und 237 Seiten. Zum Einstieg gibt die Autorin auch weniger internetaffinen Leser*innen einen Crash-Kurs in Sachen Memes und Online-Slang, der durch ein Glossar am Ende des Buches ergänzt wird. Anschließend erfahren die Leser*innen wie aus dem 1993 von einer queeren Frau etablierten Begriff »Involuntary Celibates« (unfreiwillig Zölibatäre) eine Chiffre für den mit Rassismus und Antisemitismus gepaarten Frauenhass sexuell frustrierter Männer wurde. Im zweiten Drittel des Buches analysiert Kracher das Manifest des Santa Barbara Attentäters, der 2014 in Kalifornien sechs Menschen erschoss und 14 weitere verletzte. Seine Tat konfrontierte die englischsprachige Öffentlichkeit erstmals mit dem Thema »Incels«. In den darauffolgenden Kapiteln wendet Kracher die Ergebnisse ihrer Textanalyse auf Beiträge aus diversen Incel-Foren an, um die ideologischen Elemente herauszuarbeiten, die scheinbar harmlose Online-Trolle mit den aus derselben Szene hervorgegangenen Attentätern verbinden. Incels glauben, der Feminismus habe sie zum Alleinsein verdammt, weil Frauen sich niemals auf sie, die Verlierer der von ihnen imaginierten »genetischen Lotterie«, einlassen würden, so Kracher. In Incel-Foren äußern User »ihren Frust über Kontakte mit Frauen, deren bloße Existenz sie daran erinnert, dass sie keinen Sex haben und demzufolge keine zufriedenstellende Existenz führen, obwohl ihnen diese doch qua ihres Mannseins zusteht.« (S. 192)

Bei den schlaglichtartig herausgegriffenen Beispielzitaten aus Foren und Imageboards bleibt unklar, nach welchen Kriterien Kracher die von ihr untersuchten Plattformen und Beiträge ausgewählt hat. Wo es dem Buch an Systematik fehlt, kann es jedoch mit analytischer Tiefenschärfe glänzen: Besonders gelungen ist die Abgrenzung der rein destruktiven, selbstzersetzenden Incel-Szene zum »klassischen« Männerbund. »Anders als zum Beispiel Burschenschaften oder Pick-up-Artists verspricht die Incel-Community keinen Aufstieg, sie gibt keine Stärke und keinen Halt«, so Kracher. (S. 171) Entlang Adornos »Studien zum Autoritären Charakter« sowie Klaus Theweleits Überlegungen zum faschistischen Körper zeigt die Autorin, wie Entmännlichungsängste und »empathielose Täter-Opfer-Umkehr« (S. 183) im Terrorakt als »Akt der Mannwerdung« gipfeln. Dabei wird Kracher nicht müde, zu betonen, dass mitnichten alle Mitglieder jener menschenverachtenden Subkultur zu Attentätern werden. Ihre Kritiker*innen werden es ihr trotzdem unterstellen.

Insgesamt bietet das Buch Einsteiger*innen in das Thema einen guten Überblick über die Entstehungsgeschichte, Sprache und Ideologie der Incel-Szene – wenn auch mit ein paar faktischen Ungenauigkeiten, die vermutlich dem schnellen Editionsprozess geschuldet sind. Auch bereitet es einem ein wenig Bauchschmerzen, dass die Autorin eine Umfrage aus dem Forum Incels.co als Basis für definitive Aussagen über die ethnische Zusammensetzung der User heranzieht. (S. 114) Hier wäre etwas mehr Vorsicht geboten. Weiterführend wäre eine umfassende Einbettung des nach außen gerichteten Selbsthasses der Incel-Szene in Prozesse kapitalistischer Vergesellschaftung und dem damit einhergehenden Zwang zur Selbstoptimierung interessant. Kracher gibt hier wichtige Impulse, kann das Thema aber unmöglich vollständig abarbeiten. Schließlich ist »Incels« keine wissenschaftliche Abhandlung, sondern ein gut lesbarer Einstieg in die Geschichte, Ästhetik und Ideologie der Incel-Szene, der seine Leser*innen dazu befähigt, dieser etwas entgegenzusetzen.