Foto: Laika Alva / apabiz

Lahmende Lobby »Lebensschutz«-Bewegung

Eine zumindest teilweise Änderung der Abtreibungsgesetzgebung ist seit Ende 2017 so greifbar wie schon lange nicht mehr – und sie ist trotz des gesamtgesellschaftlichen national-konservativen Aufwinds nicht von rechts angestoßen worden.

von Eike Sanders

Seitdem am 24. November 2017 die Ärztin Kristina Hänel wegen Verstoßes gegen den § 219a StGB zu 6.000 Euro Strafe verurteilt wurde, fordern große Teile der politischen Landschaft offen die Abschaffung dieses Paragrafen, der die »Werbung« für Schwangerschaftsabbrüche verbietet. Bereits vier Bundesländer wollen ihn nun mit einer Bundesratsinitiative streichen lassen. Über 150.000 Menschen haben eine Petition von Kristina Hänel an den Bundestag unterschrieben. Die Republik spricht über die offensichtliche Rückständigkeit und Repressivität des Paragrafen, der seit 1933 in den deutschen Gesetzbüchern steht und all jene mit einer »Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe« bedroht, die »öffentlich, in einer Versammlung oder durch Verbreiten von Schriften« ihres »Vermögensvorteils wegen oder in grob anstößiger Weise« »eigene oder fremde Dienste zur Vornahme oder Förderung eines Schwangerschaftsabbruchs« anbieten, ankündigen, anpreisen oder Erklärungen solchen Inhalts bekanntgeben. Kristina Hänel wurde verurteilt, weil auf ihrer Webseite das Wort »Schwangerschaftsabbruch« steht und man über einen Link ein Dokument mit Informationen über den Eingriff anfordern kann. Die Gesetzeslage, die nicht zwischen »Werbung« und »Information« unterscheidet, bietet damit ein Einfallstor, das AbtreibungsgegnerInnen seit Jahren nutzen, um Schwangerschaftsabbrüche anbietende ÄrztInnen und ihre PatientInnen einzuschüchtern und zu schikanieren. Wie viele Schwangerschaftsabbrüche anbietende ÄrztInnen und Kliniken Anzeigen bekommen haben, ist unbekannt, es dürften in den letzten Jahren wohl einige hundert wegen angeblichen Verstoßes gegen den §219a sein. Bisher sind es lediglich die Anzeigenden selbst, die damit Öffentlichkeitsarbeit betreiben und offenbaren, dass dies Teil der Propagandastrategie der »Lebensschutz«-Bewegung ist.

Zwischen »Babykaust« und moralischem Appell

Derzeitiger Hauptakteur dieser Strategie ist der »Lebensschützer« Klaus Günter Annen und dessen »Initiative Nie Wieder! e.V.«. Annen ist seit zwei Jahren stellvertretender Bundesvorsitzender der seit 2016 zum Verein degradierten ehemaligen Kleinstpartei »Christliche Mitte – Für ein Deutschland nach GOTTES Geboten« (CM), die eine fundamentalistische Abspaltung der christlich-konservativen »Deutschen Zentrumspartei« ist. Die CM kombiniert nationalistische (»Deutschland den Christen!«) und islamfeindliche Positionen mit antifeministischen, homo- und transfeindlichen Positionen. Annen ist zwar durchaus gut vernetzt, seine Methoden und (Bild-)Sprache scheinen aber großen Teilen der professionalisierten Anti-Abtreibungs-Organisationen zu radikal und abschreckend zu sein, um Erfolg in ihrem Sinne zu versprechen: Auf seinen Homepages »Babykaust« und »Abtreiber« wimmelt es nur so vor Shoah-Vergleichen, blutrünstigen Bildern abgetriebener Föten und Diffamierungen gegen die »Abtreiber-Lobby«. Annen listet dort fast 200 Namen und Kliniken und fordert auf: »Rufen Sie an, schreiben Sie ein Fax oder eine E-Mail und sagen Sie den Ärzten und ‹ihrem› Personal, was sie von der Tötung ungeborener Kinder halten! Beten Sie aber auch für eine Umkehr dieser armen Geschöpfe.« Gegen alle hat er beziehungsweise sein Verein seit 2005 Strafanzeige wegen Verstoßes gegen § 219a gestellt. Obwohl es kaum Verurteilungen gab, sind der psychologische Druck und die Verunsicherung groß und einige, vielleicht sogar die meisten ÄrztInnen haben nach so einer Strafanzeige eine Veröffentlichung über ihr Angebot freiwillig aus dem Internet genommen.

ÄrztInnen als moralische Instanz

Da die »Lebensschutz«-Bewegung ihre Aktivitäten in den letzten Jahren verstärkt hat, zum »Marsch für das Leben« in Berlin mehrere tausend Teilnehmende kamen und rechts-konservative antifeministische Positionen zunehmende gesellschaftliche Akzeptanz erfahren, wähnte sich die Bewegung als einziger Player auf dem Spielfeld des »Lebensschutzes«. Doch eine gemeinsame Kampagne zur erhöhten Strafverfolgung beim Verstoß gegen den § 219a hatte sie nicht in der Tasche, als es zum Prozess gegen Hänel kam. Noch vor gut einem Jahr hatte Dr. med. Paul Cullen, Vorsitzender der »Ärzte für das Leben e. V.«, selbstbewusst auf einer internen Tagung der »Lebensschutz«-Bewegung verkündet, es rege sich Widerstand gegen das »polit-mediale Establishment« und die Zeit des Anpassens und Zurückweichens sei vorbei. Die Bewegung selbst sei Kulturkampf und ihr Ziel sei nicht, »unseren Gegner zu überzeugen, sondern ihn zu besiegen«. Cullens Rede ist nur eines von mehreren Beispielen, wo sich der Eindruck verstärkt, dass sich die Bewegung im Aufwind sieht und sich der Ton massiv verschärft.

»Lebensschützer« haben die Funktion von ÄrztInnen als »Gatekeeper« erkannt: Abbrüche anbietende ÄrztInnen sind in Annens Weltbild »Tötungsspezialisten«, deren skrupelloses Treiben nicht nur durch den §219a, sondern überhaupt gestoppt werden müsse. In der Propaganda von professionelleren »Lebensschutz«-Organisationen wie dem »Bundesverband Lebensrecht« (BVL), dem »Ärzte für das Leben e. V. « oder den großen US-amerikanischen Vorbildern wie der »Alliance Defending Freedom« (ADF) hingegen sind sie potenzielle Verbündete und Verhindernde von Schwangerschaftsabbrüchen, wenn sie die moralische Verwerflichkeit von Abtreibungen erkennen und sich dem verweigern würden. In Deutschland steht im Schwangerschaftskonfliktgesetz (§12 Weigerung): Niemand ist verpflichtet, an einem Schwangerschaftsabbruch mitzuwirken. Auf dieses Recht auf Gewissensfreiheit zielt die »Lebensschutz«-Bewegung, um Abtreibungen durch den Mangel an durchführenden ÄrztInnen zu verunmöglichen. Dabei setzt sie auf eine positive Propaganda, die geläuterte bekehrte Abtreibungsärzte wie Dr. Bernard Nathanson (1926 – 2011) als Kronzeugen gegen das »Verbrechen« inszenieren. Und so gehen, obwohl die professionalisierte »Lebensschutz«-Bewegung Annens Methoden der Drohung nicht mitträgt, die Strategie der Einschüchterung von ÄrztInnen durch Anzeigen und Strafverfahren auf der einen und der Appell an das ärztliche »Gewissen« und eine Verstärkung von medizin-ethischen Argumentationen auf der anderen Seite Hand in Hand.

Späte Lobby- und Kampagnenarbeit

Lobbyarbeit gehört zum Kerngeschäft der parlamentarisch relativ gut vernetzten »Lebensschutz«-Bewegung und so hat sich die »Aktion Lebensrecht für Alle« (ALfA) schriftlich an alle Abgeordneten des Deutschen Bundestags gewandt und sie um die Aufrechterhaltung des Werbeverbots für Abtreibungen gebeten. Der BVL startete am 12. Dezember seine Kampagne »Keine Werbung für Abtreibung« und übergab mit einer kleinen »Demonstration« stellvertretend mehreren Abgeordneten des Bundestages »Nachbildungen von Embryonen in der zehnten Lebenswoche«. Die evangelikale Dachorganisation »Deutsche Evangelische Allianz« veranstaltete am 13. Dezember einen »parlamentarischen Abend« im Bundestag, ihr Generalsekretär Hartmut Steeb sagte den anwesenden ParlamentarierInnen von CDU/ CSU und FDP: »Wir (geben) keine Ruhe, solange 100.000 Menschen am Eintritt ins Leben gehindert werden.«

Überrascht von der Debatte, die zwar einer der ihren mit seiner Anzeige gegen Hänel angestoßen hatte, deren Richtung und Wucht aber mangels einer eigenen konzertierten Gegenpropaganda außerhalb ihrer Kontrolle liegt, werden allerdings auch Stimmen von einem »Eigentor« laut: Nun werde auch über den §218 geredet werden, der »Kompromiss« sei in Gefahr: »Es bröckelt an allen Ecken und Enden. Nach der ‹Ehe für alle›, der Diskussion um Leihmutterschaft und Sterbehilfe, nun wieder das Dauerbrennerthema Abtreibung. Das Töten in Deutschland erfährt Konjunktur«, schreibt Bernhard Limberg in der »ideaSpektrum«. Der Autor, der auch Vorsitzender der »Lebensschutz«-Organisation »Kaleb e. V.« im Lahn-Dill-Kreis ist, wünscht zweifelnd und verzweifelnd, dass Christen auf die Straße gehen, wenn nun womöglich nicht nur der §219a, sondern gar der §218 gekippt werden solle. Die Abschaffung des gesamten § 218 ff. scheint unrealistisch, doch die plötzliche Zulassung der Öffnung der Ehe für alle im Sommer 2017 und dann auch die Forderung des Bundesverfassungsgerichtes nach einer dritten Geschlechtsoption im Behördenregister haben auch die »Lebensschutz«-Bewegung getroffen: Für sie ist der Zusammenhang zwischen »Frühsexualisierung«, »Genderwahn«, der Bedrohung des Christentums, der angeblichen Auflösung der traditionellen Hetero-Familie und Abtreibungen sonnenklar. Die Größe der personellen Überschneidungen auf den »Demos für Alle«, die zu Hochzeiten in Stuttgart einige Tausend Menschen gegen mehr Diversity im Bildungsplan mobilisieren konnten, ergibt sich aus der ideologischen Kongruenz im Antifeminismus. Unterschiede in der Nähe oder Distanz zu Neonazis oder »Alternative für Deutschland« (AfD), abstoßende Holocaust-Vergleiche oder Uneinigkeit in der Frage, wie zentral Religion im eigenen Weltbild ist, haben bisher keine Zusammenarbeit zwischen der »Lebensschutz«-Bewegung und einem sich organisierenden Antifeminismus verhindert. Gesellschaftlich und ideologisch drohen gefährliche Diskursverschiebungen nach rechts und die Vertiefung diverser Gräben. Dennoch: Der gesellschaftlich erstarkende Antifeminismus (und mit ihm die latente bis offene Homo- und Transfeindlichkeit) der sich in den »Demos für Alle« zeitweilig materialisieren konnte, musste auf der realpolitischen Ebene Rückschläge einstecken, was auch Teile der »Lebensschutz«-Bewegung in Bezug auf den § 219a entmutigen dürfte.

Allein Waldemar Herdt von der AfD scheint derzeit Angriff für die beste Verteidigung zu halten, freut sich über die Verurteilung Hänels und fordert sogleich die Abschaffung des ersten Absatzes des §218a StGB. Er möchte, dass das »Ermorden eines unschuldigen Kindes« ausnahmslos wieder strafbewehrt ist, was eine »Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis hin zu fünf Jahren« bedeuten würde. Damit ist er natürlich nicht allein und der Aufwind der extremen Rechten schlägt sich nicht nur im Rassismus sondern auch im Antifeminismus nieder. Doch zumindest beim Fall Hänel hat sich die »Lebensschutz«-Bewegung bisher als schlecht aufgestellt präsentiert.

Dieser Artikel erschien zuerst in einer leicht geänderten Fassung in »Gesundheit braucht Politik – Zeitschrift für eine soziale Medizin Ausgabe 4/2017«. In dieser Form erschien er in »der rechte rand – magazin von und für antifaschistInnen Nr.170«.