June 2015. People in New York commemorate the victims of Charleston. / Juni 2015. In New York wird den Ermordeten Menschen in Charleston gedacht  Foto: cc by-sa flickr.com/photos/otto-yamamoto

Einsame Wölfe werden in Rudeln geboren

Seit jeher benutzen Rechtsextremist*innen und Rassist*innen[1] in den USA Gewalt um Menschen einzuschüchtern, zu nötigen und zu terrorisieren. Sie senden damit eine klare Botschaft, wer das Recht hat hier zu sein und wessen Werte sich durchsetzen.

von Terri A. Johnson, Executive Director, Center for New Community, Chicago
Übersetzung: Emal Ghamsharick

Im September 1963 legten vier Mitglieder des Ku-Klux-Klan (KKK) in der 16th Street Baptist Church in Birmingham, Alabama, mindestens 15 Stäbe Dynamit. Die Explosion tötete vier 14-jährige Mädchen: Addie Mae Collins, Carol Denise McNair, Carole Robertson und Cynthia Wesley. 22 weitere Menschen wurden verletzt. Es war bereits der vierte Bombenanschlag in vier Wochen.

52 Jahre später, im Juni 2015, betrat Dylann Roof eine andere Kirche: die Mother Emanuel AME Church in Charleston, South Carolina. Er saß fast eine Stunde lang in einem Bibelkreis und erschoss dann neun Menschen: Cynthia Hurd, Susie Jackson,Ethel Lance, Rev. DePayne Middleton-Doctor, Hon. Rev. Clementa Pinckney, Tywanza Sanders, Rev. Daniel Simmons Sr., Rev. Sharonda Singleton und Myra Thompson. Anders als die Attentäter der 16th Street Baptist Church war Roof kein Mitglied des KKK oder einer anderen Hate Group. Er war ein 21-jähriger Südstaatler, dem nicht jahrelang eingeredet worden war, dass er als Weißer überlegen sei. Ganz anders als Robert Chambliss, der im Jahr 1963 neunundfünfzig Jahre alt war und 1977 als erster Täter für den Anschlag auf die 16th Street Baptist Church verurteilt wurde. Roof handelte als »einsamer Wolf« – und das ist ein sehr dehnbarer Begriff.

Nach der einfachsten Definition ist das eine Person, die eine Gewalttat alleine und nicht als Teil einer größeren Organisation oder Bewegung plant und durchführt. Eine breitere Definition umfasst Mitglieder, die zwar in Gruppen indoktriniert wurden, aber alleine handeln. Andere Definitionen beschreiben Gewalttäter*innen ohne politisches oder ideologisches Motiv. Das moderne Konzept ist mit der von extremen Rechten propagierten Strategie des »führerlosen Widerstands« verbunden. 1987 wurden 14 landesweit bekannte extrem rechte Anführer mit Verbindung zum Aryan World Congress wegen einer »Verschwörung zum Umsturz der US-Regierung« angeklagt. Louis Beam, einer der Angeklagten, veröffentlichte mehrmals einen Aufruf zum »führerlosen Widerstand« als konspirative Strategie. Der Neonazi Tom Metzger schrieb in seinem Essay »Laws for the Lone Wolf«, dass jede Beteiligung an organisierten Gruppen vermieden werden sollte.

Die Bezeichnung »Lone Wolf« für Roof ist vielleicht zutreffend, aber unvollständig. Er identifizierte sich mit organisierten rassistischen Gruppen und gestand,dass seine Taten einen »Rassenkrieg« auslösen sollten. Auf seiner Homepage lastrhodesian.com[2] posierte Roof umgeben von Konföderiertenflaggen und Hakenkreuzen und veröffentlichte ein Manifest mit seinen Ansichten über People of Color. Vor Gericht trug er Schuhe mit Neonazi-Zeichen und KKK-Runen. Er schrieb, dass er den Rassismus entdeckt habe, nachdem er »black on white crime«[3] googlete und auf die Homepage des Council of Conservative Citizens[4] stieß. Zudem las Roof die Neonazi-Website Daily Stormer.

»Ich bin als Einzelner nicht in der Lage einfach ins Ghetto zu gehen und zu kämpfen. Ich wählte Charleston, weil es die geschichtsträchtigste Stadt in meinem Bundesstaat ist und mal das höchste Verhältnis von Schwarzen zu Weißen in den USA hatte. Wir haben hier keine Skinheads, keinen richtigen KKK, alle reden nur im Internet. Irgendjemand muss den Mut haben, es durchzuziehen; das bin dann wohl ich«, schrieb Roof. Er war zwar nie auf einem Treffen, einer Kundgebung oder registriertes Mitglied einer Hate Group. Doch er fand den Hass im Internet und machte ihn sich zu eigen. Vielleicht handelte er allein, aber nicht außerhalb eines Gesamtsystems. Sein Beispiel ist aufschlussreich für uns.

Internet als Waffe

Rechtsextreme haben in den USA seit 1990 beinahe 450 Menschen getötet. In den letzten 15 Jahren waren meistens Einzeltäter*innen und Kleingruppen verantwortlich. Das Lone-Wolf-Modell hilft uns, die Strategie hinter den Taten zu verstehen. Doch dieser Begriff hat Schwächen. Erstens wird der Begriff so breit angewandt, dass er nicht mehr eindeutig ist, und extreme Rechte verwenden »Lone Wolf« als Name für ihre Kampfstrategie, also brauchen wir vielleicht einen anderen Begriff. Zweitens ist der einsame Wolf im Internetzeitalter so typisch, dass der Begriff nichts mehr aussagt. Schließlich hat das Internet die Öffentlichkeitsarbeit und Mobilisierung für alle Themen grundlegend verändert. In der Vergangenheit trafen sich Rechtsextreme persönlich, wie alle anderen auch, um ihre Hetze zu verbreiten. Das Internet bietet weniger Risiko und leichteren Zugang zu möglichen Unterstützer*innen. Also verlegten Rechtsextreme, wie andere Gruppen auch, ihre Aktivität ins Internet.

Wenn wir davon ausgehen, dass der Täter allein handelte oder »sich selbst radikalisierte«, übersehen wir die von Rassismus und Abgrenzung geprägte »Leitkultur«.

Doch anders als andere Gruppen nutzen sie das Internet als Waffe. Drittens – und hier liegt die Hauptgefahr – schafft das Erklärungsmuster »einsamer Wolf« eine Trennung zwischen dem Täter und der ihn umgebenden Kultur: Wenn wir davon ausgehen, dass der Täter allein handelte oder »sich selbst radikalisierte«, übersehen wir die von Rassismus und Abgrenzung geprägte »Leitkultur«, die diese Gewalt hervorbringt und bezeichnen die Täter*innen als »Spinner«, die aufgrund persönlicher Ansichten und für persönliche Zwecke handeln. So halten wir uns mit dem Antrieb des Einzeltäters auf: Hass? Dummheit? Wut? Purer Rassismus? Dabei ignorieren wir, dass der weiße Nationalismus eine strategische und koordinierte Bewegung mit politischen Zielen ist und kein Ausbruch von Emotionen.

Wir tun so, als wäre diese rassistische Gewalt nicht Teil einer politischen Struktur mit langer Gewaltgeschichte gegen Afroamerikaner*innen und andere People of Color. Wir führen das Problem auf Handlungen Einzelner und nicht auf systematische Muster zurück. Genau diese Muster verbinden aber viele Menschen im Geiste, wenn auch nicht immer im Handeln. Roofs rassistische Ansichten sind nicht neu und auch keine Randpositionen. Roof, der Mörder, ist vielleicht ein Sonderfall, aber Roof als einer von vielen, die immer mehr nach rechts rücken, ist es nicht.

Seit 2000 ist die Zahl der Hate Groups in den USA gewachsen. Hassverbrechen und rassistische Vorfälle häufen sich. Im August dieses Jahres schaute die Welt zu, als ein Marsch unter dem Motto »Unite the Right« durch Charlottesville, Virginia zog. Es war die größte Neonazi-Demonstration seit 1987 und endete mit einer weiteren Tragödie, als ein Amokfahrer in die Gegendemonstration fuhr und Heather Heyer tötete sowie viele weitere verletzte.

Extrem rechte Gruppen sind nicht die Verursacher, sondern nutzen den vorhandenen Rassismus aus. Um diese Gruppen zu bekämpfen, müssen wir sowohl die einzelnen Täter*innen als auch das System und die Kultur betrachten, die sie erschaffen und bestärken. Einsame Wölfe werden in Rudeln geboren und herangezüchtet. Sie arbeiten hart daran, eine Weltanschauung umzusetzen, die von immer mehr Leuten geteilt wird. Wir müssen genauso hart arbeiten, um diese Gewalt zu beenden. In den Worten der Bürgerrechts- und Menschenrechtsaktivistin Ella Baker: »We who believe in freedom cannot rest.« Wenn wir die rassistische Gewalt beenden wollen, müssen wir im Namen der Gerechtigkeit zusammen- kommen. Wir müssen weiter die Drahtzieher*innen der heutigen rassistischen Bewegungen entlarven, die Angegriffenen schützen und weiter für eine Welt arbeiten, in der ALLE Menschen gut leben können.

  1.  Anm. d. Ü.: In diesem Artikel übersetze ich »White Nationalism« als »Extreme Rechte«/ »Rechtsextremismus« und »White Supremacy« als »Rassismus«, da diese Begriffe in Deutschland geläufiger sind, wenn auch nicht 100 % deckungsgleich.
  2.  Anm. d. Ü.: Rhodesien war der Name Zimbabwes unter der Kolonialherrschaft. Namensgeber war der britische Kolonialverbrecher Cecil Rhodes.
  3.  Anm. d. Ü.: »Black on white crime« (Gewalt von Schwarzen gegen Weiße) ist in den USA ein ähnlicher Kampfbegriff unter Rechten wie »Ausländerkriminalität« in Deutschland, mit einigen wichtigen Nuancen in der Verwendung.
  4.  Diese »Konservative Bürgervereinigung« wurde in den 1980ern gegründet und stammt von den White Citizens Councils der Bürgerrechtsära ab, die sich für »Rassentrennung« und das Verbot der »Rassenvermischung« einsetzten.