Gamze Kubaşık neben ihrem Anwalt Sebastian Scharmer vor dem Oberlandesgericht München.  Foto: Robert Andreasch

Der Kern des NSU-Komplex

Der Prozess in München ist in seine Schlussphase eingetreten

Im November haben die Plädoyers der Nebenklage begonnen. Es sprechen Angehörige der Mordopfer des NSU, Betroffene der Sprengstoffanschläge selbst und auch ihre Anwält*innen legen ihre Sichtweise auf das Verfahren und den NSU-Komplex dar.

von Caro Keller – NSU-Watch

Es wird klar, warum das Ende des Verfahrens, das voraussichtlich im Frühjahr 2018 liegen wird, kein Schlussstrich unter den NSU-Komplex sein kann. Nicht nur weil es moralisch verwerflich wäre, sondern weil wir mitten in den Aufklärungsbemühungen stehen und nicht an deren Ende. Immer noch werden die meisten Artikel über den NSU-Prozess mit den aktuellsten Fotos von Beate Zschäpe bebildert. Dabei geht es im NSU-Prozess in München endlich wieder um den Kern des NSU-Komplex. Was in diesen Tagen, nicht nur im Prozess, erneut überdeutlich wird, ist, wie schwer die Sätze von Ibrahim Arslan, Überlebender des Brandanschlags von Mölln 1992, »die Betroffenen sind keine Statist*innen. Sie sind die Hauptzeug*innen des Geschehenen« wiegen müssen. Wären sie ernst genommen worden, gäbe es heute wohl eine ganz andere Faktenlage, denn die NSU-Mordserie hätte verhindert werden können. Während der Plädoyers der Nebenklage wiederholt sich immer wieder, was die Angehörigen der Mordopfer und ihr Umfeld bei Aussagen bei der Polizei unermüdlich betont haben: Sie vermuteten einen rechten Hintergrund der Morde. Sie forderten die Beamt*innen auf, in Richtung Neonazis und Rassismus zu ermitteln. Aber, und auch das betonen die Nebenklagevertreter*innen, in den Ermittlungsakten fänden sich daraufhin keine bedeutenden Bemühungen, diesem Ermittlungsansatz nachzugehen. 2006, nach dem Mord an Halit Yozgat, schlossen sich die Angehörigen zu zwei Demonstrationen in Kassel und Dortmund zusammen, forderten »Kein 10. Opfer« und Ermittlungen zu einem rechten Motiv. Auch an diese Demonstrationen erinnern Anwält*innen der Nebenklage, sie seien allerdings von der Gesellschaft nicht wahrgenommen worden. »Stellen sie sich vor, man hätte auf sie gehört.« Dieses spezifische Wissen habe den Polizeibehörden gefehlt, sonst hätten die Morde möglicherweise verhindert werden können, fasste der Anwalt Mehmet Daimagüler zusammen, der Angehörige der Mordopfer Abdurrahim Özüdoğru und İsmail Yaşar im NSU-Prozess vertritt.

Ein Ort der Betroffenen

Stattdessen ermittelten die Behörden gegen die Opfer, ihre Familien und ihr Umfeld mit rassistischen Thesen. Die Dimension des institutionellen Rassismus, die zentral im NSU-Komplex ist, hatte im Prozess in den vergangenen Jahren kaum Platz gefunden. Betroffene wurden ermahnt, gezielter auf Fragen zu antworten, wenn sie über die Arbeit der Polizei sprechen wollten. Ermittelnde Beamt*innen wiesen den Rassismus in ihren Ermittlungen vor Gericht und Untersuchungsausschüssen stets zurück oder verteidigten ihr Thesen. In dieser letzten Phase des Prozesses wird der Raum für diese Geschichten, die für die Betroffenen untrennbar mit den Morden und Anschlägen des NSU zusammenhängen, zurückerkämpft. Carsten Ilius, Anwalt von Elif Kubaşık stellte heraus, mit der Art der Ermittlungen sei »die vom NSU beabsichtigte Tatwirkung der Verunsicherung der migrantischstämmigen Bevölkerung verstärkt« worden. Es habe den Zielen des NSU entsprochen, dass die Opfer der Anschläge und ihr Umfeld auch noch Opfer der Ermittlungen der Polizei und Staatsanwaltschaft würden und mit der Stigmatisierung zu leben hätten, so Ilius. Nebenklage-Vertreter Sebastian Scharmer fügte dem an, für seine Mandantin Gamze Kubaşık sei ihr Vater dadurch ein zweites Mal ermordet worden. In diesen Plädoyers wurde das rassistische gesellschaftliche Zusammenspiel, das den NSU erst in dieser Form ermöglichte, deutlich.

Die Dimension des institutionellen Rassismus, die zentral im NSU-Komplex ist, hatte im Prozess in den vergangenen Jahren kaum Platz gefunden.

Rechtsanwalt Kuhn, der ein Opfer des Nagelbombenanschlages auf die Kölner Keupstraße am 09. Juni 2004 im NSU-Prozess vertritt, bezeichnete insbesondere die Ermittlungen nach dem Anschlag als Paradebeispiel für institutionellen Rassismus. Die Plädoyers, die den Anschlag auf die Keupstraße thematisierten, gingen außerdem auf das Verhalten Otto Schilys ein, der kurze Zeit später einen terroristischen Hintergrund ausschloss. Ein Überlebender des Anschlags beschrieb nicht nur die Leiden der Betroffenen, die nach dem Nagelbombenanschlag »von der deutschen Polizei als Täter, als Kriminelle behandelt, diskriminiert und in ihrer Ehre verletzt wurden«. Mit Blick auf den damaligen Bundesinnenminister Otto Schily beschrieb er auch die Auswirkungen von dessen Statement: »Wenn der Innenminister einen terroristischen Anschlag auf uns, die wir als Ausländer gelten, auf die Keupstraße als Zentrum von türkischen und kurdischen Geschäften, als nicht gegeben ausgibt, sondern auf ein ‘kriminelles Milieu’ verweist, war klar, was wir zu erwarten hatten.« Schily geht heute (leider erfolgreich) juristisch gegen Kritiker*innen vor, die sein damaliges Statement aufarbeiten.

»Die Hauptverhandlung findet nicht im gesellschaftlichen Vakuum statt«, stellte Daimagüler jenem Teil seines Plädoyers voran, in dem er auf die gesellschaftlichen Bedingungen einging, ohne die der NSU nicht in dieser Form hätte handeln können. Für die Gesellschaft sei es wesentlich angenehmer, den Rassismus an den Rand der Gesellschaft zu verschieben, zu glatzköpfigen Skinheads und Neonazis. Es herrsche eine mangelnde Bereitschaft den eigenen Rassismus zu thematisieren, der nicht geleugnet werden könne. Daimagüler: »Rassismus strukturiert unsere Gesellschaft, prägt uns, die wir in ihr aufwachsen.« Und dann finde Ein- und Ausgrenzung statt: Wer nicht dazu gehöre, sei stets gefährdet, werde aus dem »deutschen Wir« ausgeschlossen. Das sei genau das, was Opfern des NSU angetan worden sei, so Daimagüler, sie seien nicht als Teil unserer Gesellschaft angesehen worden.

Elif Kubaşık wies diesen Ausschluss vor Gericht kämpferisch zurück: »Die, die das gemacht haben, die diese Taten begangen haben, sollen nicht denken, weil sie neun Leben ausgelöscht haben, dass wir dieses Land verlassen werden. Ich lebe in diesem Land und gehöre zu diesem Land. Ich habe zwei Kinder in diesem Land zur Welt gebracht. Mein Enkel Mehmet ist hier in diesem Land zur Welt gekommen. Wir sind ein Teil dieses Landes und wir werden hier weiter leben.« Sie und die anderen Angehörigen und Betroffenen zeigen in diesen Wochen vor Gericht, dass sie keine Statist*innen, keine arglosen Opfer sind, die an den Rand des Geschehenen gedrängt werden können. Auch die Versuche, der BAW, sie so darzustellen, wurden klar zurückgewiesen. So kritisierte Scharmer Oberstaatsanwältin Greger wegen ihres Ausspruchs, Nebenklagevertreter*innen hätten Mandant*innen wohl »Hintermänner« versprochen. Dies spreche auch Gamze Kubaşık ab, »dass sie selbst über ihre Interessen entscheiden kann und einen Anwalt damit beauftragt, diese durchzusetzen.«

In allen Schlussvorträgen wurde auch der These der BAW widersprochen, beim NSU habe es sich um ein isoliertes Trio gehandelt, das ohne staatliche Verstrickung gemordet habe. Detailfreudig wurde diese These schon in den ersten zwei Wochen der Nebenklage-Plädoyers auseinandergenommen und klar widerlegt.

Ein Ort der Täter*innen

Der NSU-Prozess ist wieder bei seinem Kern, dem NSU-Komplex mit all seinen Facetten angekommen und die Angehörigen, die Betroffenen und ihre Vertreter*innen haben ihn dorthin gerückt. Im seinem Verlauf hatte sich der Prozess immer weiter von diesen Inhalten entfernt. Das zeigt der Rückblick.

Zu Beginn wurde zum wesentlichen Punkt des NSU-Komplexes verhandelt: die rassistische Mord- und Anschlagsserie und das unterstützende Neonazi-Netzwerk. Spätestens an dieser Stelle entwickelte sich der Prozess aber auch zu einem Ort der Täter*innen. Angehörige der Mordopfer des NSU und Betroffene der Sprengstoffanschläge saßen selbstzufriedenen Angeklagten gegenüber, die jeden Morgen aufs Neue durchaus beschwingt ihre Plätze einnahmen. Die Betroffenen und Angehörigen wurden vom vorsitzenden Richter Götzl ermahnt, nicht »abzuschweifen«. Etwa als Ismail Yozgat, der Vater des ermordeten Halit Yozgat, berichten wollte, wie er seinen Sohn sterbend im Internetcafé fand. Für all dies sollte nach Ansicht des Gerichtes kein Platz sein, plötzlich war Eile angesagt, das Beschleunigungsgebot wurde ausgerechnet hier betont, um die Angeklagten vor allzu langer Untersuchungshaft zu schützen.

Anders die Situation, als die zahlreichen Weggefährt*innen und Helfer*innen des NSU-Kerntrios am Zeug*innentisch Platz nahmen. Sicher, auch wir wollen wissen, wer im Unterstützungsnetzwerk des NSU welche Aufgabe übernahm. Umso schwerer auszuhalten waren die Aussagen der offen lügenden Neonazis, die sich für ihre Unverschämtheiten (etwa die dreiste Behauptung, dem »Thüringer Heimatschutz« sei es politisch um Atompolitik gegangen) stets Raum nahmen und dafür auch vom Senat alle Zeit erhielten.

Doch diese Phase ist lange her und fiel in einen Zeitraum, in dem die Beweisanträge der sehr engagierten Nebenklage-Vertreter*innen – zum Beispiel die beantragte Ladung von weiteren Zeug*innen – bewilligt wurden.

Uns bleibt seitdem nur, die Anträge der Nebenklage für unsere Protokolle mitzuschreiben und ihnen dort Raum zu geben. Sie sind es, die stets zeigen, was es eigentlich zu ermitteln gäbe, wenn der NSU-Komplex aufgeklärt werden sollten. Dies wird nun in den Plädoyers fortgeführt und abgerundet.

Die Zeit, in der der Prozess kontinuierlich sein Programm, wie es u.a. in der Ladungsliste festgelegt war, abarbeitete, endete im Juli 2014, als die Hauptangeklagte Zschäpe sich entschied, ihre Verteidiger*innen loswerden zu wollen. Seitdem drehen sich unerträglich viele Verhandlungstage um die Angeklagten und Befangenheitsanträge, von denen einer nach dem anderen ohne Aussicht auf Erfolg gestellt wurde. Im Oktober 2017 wurden deshalb die Vermutungen lauter, dass die Verteidiger*innen der drei Hauptangeklagten dieses Verfahren zum Scheitern bringen wollen.

Nicht nur Geschichte sondern Gegenwart

Der gesamtgesellschaftliche Zusammenhang, wie er von Nebenklagevertreter*innen während der Plädoyers betont wird, bildet auch die Folie, vor der der Prozess stattfindet. So entfaltet auch die seit 2012 anhaltende gewalttätige rassistische und völkische Mobilisierung ihre Wirkung bis in den Gerichtssaal. Während der aktuellen völkischen Mobilisierung spitzt sich dieses Verhältnis noch deutlich zu. Für das Geschehen im Gerichtssaal heißt das etwa ganz konkret, dass Neonazis sich recht selbstbewusst am Zeug*innentisch äußern und ganz selbstverständlich auf den Besucher*innenplätzen anwesend sind und von dort aus den Angeklagten winken.

Der NSU muss in eine Politik des rechten Terrors eingeordnet werden, die keine Geschichte sondern Gegenwart ist.

Vor diesem Hintergrund findet auch unsere Arbeit statt. Es aktualisiert tagtäglich die Frage nach einem angemessenen Umgang mit der extremen Rechten, der sich aus dem NSU-Komplex ergeben soll. Es geht um nichts weniger als die Frage, wie rechter Terror in Zukunft verhindert werden kann. Für die Arbeit von NSU-Watch heißt dies weiter um Aufklärung zu ringen, und dafür Perspektiven über den Prozess hinaus zu finden. In den letzten Jahren hat sich gezeigt, dass neben antifaschistischen und journalistischen Recherchen auch die parlamentarischen Untersuchungsausschüsse viel zu Tage gefördert haben. Dabei fehlen jedoch weitere Untersuchungsausschüsse in Hamburg und in Mecklenburg-Vorpommern, die auch Tatort-Länder des NSU sind. Aber auch in Berlin, in Niedersachsen sowie auf Bundesebene gibt es weiteren Bedarf für parlamentarische Aufklärung. Die bestehenden und zukünftigen Ausschüsse gilt es weiterhin kritisch beobachten.

Es heißt für uns auch der Toten zu gedenken, jedes Gedenken ist nicht nur ein Zurückblicken, sondern richtet den Blick auch in die Zukunft. In eine Zukunft, in der rassistische Morde nie wieder geschehen sollen. Wir haben in den letzten Jahren gelernt, den Betroffenen von rechtem Terror als Hauptzeug*innen des Geschehenen zuzuhören. Mit dem Prozessende wird hoffentlich der gesellschaftliche Fokus auf die Täter*innen zumindest weniger präsent sein, denn in diesen Fokus gehören die Betroffenen, das haben nicht erst die Wochen ab November 2017 gezeigt. Wir brauchen ihr Wissen, ihre Perspektive für Aufklärung und gesellschaftliche Aufarbeitung des NSU-Komplex. Wir wollen gemeinsam mit ihnen gegen Rassismus kämpfen, aktuelle Entwicklungen von rechts im Blick zu behalten und für eine bessere Gesellschaft kämpfen. Dieser Weg wurde auch auf dem diesjährigen NSU-Tribunal eingeschlagen. Hier kamen Gedenken, die Perspektive der Angehörigen und Betroffenen sowie Analysen zu Neonazi-Gewalt zusammen. Der NSU muss in eine Politik des rechten Terrors eingeordnet werden, die keine Geschichte sondern Gegenwart ist. Daran wird auch ein Urteil in München nichts ändern.