Lügen für das Leben

Eine Lektüreerinnerung

Jurek Beckers Roman »Jakob der Lügner« ist ein wortmächtiger Versuch, im Angesicht des Holocausts die Sprache wiederzufinden. Erschienen bei Suhrkamp, Frankfurt am Main 1969.

Jakob Heym, Hauptfigur des Romans, teilt das Schicksal seiner jüdischen Leidensgenossen im Warschauer Ghetto. Als er auf das Wachrevier der Deutschen geschickt wird, schnappt er den Fetzen einer Radionachricht auf, wonach die Rote Armee vor Warschau stehe. Bürokratie oder Fügung: Unverhofft darf Jakob die Wachstube des deutschen Teufels wieder verlassen und weiß nicht wohin mit seiner Hoffnung. Die arbeitet in ihm, wo er auf so viel Leid und Verzweiflung trifft. Jakob beginnt zu lügen. Er beginnt, die Radionachricht der Hoffnung auf Befreiung zu erzählen, auszuschmücken und anzureichern. Jakob spielt anderen vor, er habe, wiewohl im Ghetto streng verboten, ein Radio. Seine »Radiosendungen« gleichen Kasperlespielen der Zuversicht und Sehnsucht. Die ihm zuhörenden Ghettobewohner schöpfen Hoffnung und verlangen nach immer neuen Nachrichten von Jakob. Der greift in seiner Not zu immer größeren Lügen. Lügen, die den Ghettobewohnern wie ein Stück Brot helfen zu überleben. Sie denken wieder an die Zukunft. Der Roman bietet seinen Lesern zwei Varianten eines Endes. In der »realen« Variante erhängt sich Jakobs Freund und Helfer, Kowalsky, in der anderen wird Jakob auf der Flucht aus dem Ghetto erschossen, während der Geschützdonner der Roten Armee schon zu hören ist und das Ghetto befreit wird. Bekanntlich stoppte der Vormarsch der Roten Armee vor Warschau. Die um ihr Leben kämpfenden Juden bleiben allein. Ein Meisterstück ist der Roman, weil er seine Geschichte nicht linear erzählt, sondern in Brüchen, Facetten und Varianten. Der Leser ahnt wohin die Erzählung läuft, und ist doch gefangen von dem Sog der Absurdität der Hoffnung jener, denen die Vernichtung bevorsteht.

Der Roman basiert auf dem Drehbuch gleichen Titels, welches Jurek Becker 1968 bei der DEFA in der DDR einreichte. Das Drehbuch wurde abgelehnt. Becker arbeitete das Drehbuch zu einem Roman um. Dieser durfte in der DDR 1969 erscheinen, obwohl seine Handlung und seine Figuren so gar nicht dem vielfach (aber nicht ausschließlich) in der DDR-Literatur vorfindlichen heroischen Antifaschismus passten. Denn anders als in »Nackt unter Wölfen« findet sich in »Jakob der Lügner« kein Kommunist ohne Fehl und Tadel ein, dem Gang der Geschichte aufzuhelfen. Das eckte an. Wieder und wieder sollte Becker sein Typoskript überarbeiten. Es kam zu Streitereien um die Veröffentlichung des Films. Doch Beyer setzte den Film in der DDR durch, der als erster und einziger DDR-Film eine Oscar Nominierung erhielt und bis heute als cineastischer Klassiker zum Thema Holocaust-Film gilt.

Mit dem Leben im Ghetto war Jurek Becker wohl vertraut. Im Jahr 1937 wurde er in einer jüdischen Familie in Lodz geboren. Recht bald muss die Familie ins Ghetto umziehen. Jurek wird von seinen Eltern getrennt. Er überlebt die Konzentrationslager in Sachsenhausen und Ravensbrück. Nach dem Krieg wird er von seinem Vater wiedergefunden, mit dem er in die DDR übersiedelt. Becker macht Abitur und wird von der deutschen Armee NVA zum Wehrdienst eingezogen. Dieser entronnen, beginnt er ein Philosophiestudium und arbeitet danach als Autor bei der DEFA. In der Folge der Biermann Ausbürgerung verließ Becker 1977 die DDR und arbeitete in Westberlin als Drehbuch-Autor für das westdeutsche Fernsehen.

Beckers erster großer Roman »Jakob der Lügner« war Gegenstand breiter literaturwissenschaftlicher Debatten zum Umgang des Autors mit seinen furchtbaren Erfahrungen. Besonders vehement vertrat W.G. Sebald die Auffassung, der Roman sei Beckers Art den Traumata der Lager und seiner Todesangst aus dem Wege zu gehen, und diese zu verdrängen. Beckers literarisches Schaffen thematisiert die poetische Gratwanderung zwischen Schweigen und Sprechen über den Holocaust nirgends offensiv,aber die Spuren dessen sind lesbar.

»Jakob der Lügner« zählt zu den wortmächtigsten poetischen Widerlegungen der These Adornos, dass es nach und über Auschwitz keine Literatur geben könne.

Christian Grünert