München am Tag des Urteils im ersten NSU-Prozess.  Foto: Kilian Behrens / apabiz

»Wir verstehen uns als Teil der bundesweiten Aufarbeitungsbewegung«

Im Mai 2023 veröffentlichte der RAA Sachsen e.V. eine umfassende Machbarkeitsstudie für ein Dokumentationszentrum zum NSU-Komplex in Südwestsachsen. Darin wird zum einen resümiert, wie die bisherige Aufarbeitung zum NSU-Komplex gelaufen ist. Zum anderen wird ein detaillierter Vorschlag unterbreitet, wo und wie ein Dokumentationszentrum aufgebaut werden könnte, wer beteiligt werden sollte und was dies für Maßnahmen erforderlich macht. Wir sprachen dazu mit zwei der Autor*innen, Dana Schlegelmilch und Jörg Buschmann.

Ihr habt im Frühjahr Eure Studie veröffentlicht. Welche Reaktionen gab es darauf?

Das Projekt wird mit Interesse verfolgt. Besonders gefreut hat uns das natürlich bei den Betroffenen, denn wir halten es nicht für selbstverständlich, dass sie sich mit einem sächsischen Projekt auseinandersetzen. Hier gibt es auch das klare Signal, dass sie von Anbeginn in alle Entscheidungen einbezogen werden wollen. Auch in der sächsischen Zivilgesellschaft gibt es viel Aufmerksamkeit. Vorteilhaft war sicherlich, dass die Studie in den regionalen Medien ausführlich besprochen wurde. Es gab überwiegend positive Reaktionen, oft wurde die damit verbundene Hoffnung geäußert, bald konkrete Fortschritte sehen zu können. Für Gesprächsstoff sorgte am ehesten noch die vorgeschlagene Aufteilung des Zentrums mit Standorten in Chemnitz und Zwickau: Das ist nicht unumstritten. Wir halten es aber weiterhin für eine sinnvolle Lösung, auch um die damit verbundene Verantwortung besser schultern zu können. Im politischen Raum waren die Reaktionen im erwarteten Rahmen: Verschiedene (Fach-)Politiker*innen haben die Veröffentlichung begrüßt. Bei den Oberbürgermeister*innen von Zwickau und Chemnitz war die Reaktion eher zurückhaltend, aber auch nicht ablehnend. Fundamentale Ablehnung hat uns nicht erreicht. Auf der Bundesebene steht unter anderem die Frage im Mittelpunkt, ob der Raum Südwestsachsen ein geeigneter Standort sein kann. Gefragt wurde außerdem, ob die Nähe zum Staat tatsächlich erwünscht ist. Beides sind triftige und bedenkenswerte Punkte und sollten insbesondere unter Beteiligung der Angehörigen und Betroffenen sowie der Engagierten der Aufarbeitungsbewegung besprochen werden.

Wichtig war und ist Euch die Beteiligung einer Vielzahl von Akteuren, etwa den Betroffenen und Hinterbliebenen des rechten Terrors, aber auch zivilgesellschaftlicher Organisationen und Netzwerke. Nicht nur die Konzeption des Doku-Zentrums wurde breit diskutiert, es wurden auch Ideen entwickelt, wie die zukünftige Arbeitsweise offen und partizipativ gestaltet werden kann. Warum ist eine breite Zusammenarbeit besonders wichtig?

Wir verstehen uns und auch das zu gründende Dokumentationszentrum als Teil der bundesweiten Aufarbeitungsbewegung. Generell ist für die Aufarbeitung des NSU-Komplexes ja kennzeichnend, dass es ein gesellschaftliches Bündnis aus Betroffenen, antifaschistisch und zivilgesellschaftlich Engagierten, Künstler*innen und einzelnen Politiker*innen war und ist, das die Aufklärung voran gebracht hat. Obwohl Bundeskanzlerin Merkel 2012 das Versprechen gegeben hat, dass der Staat umfassend aufklären würde, und obwohl es mittlerweile 15 parlamentarische Untersuchungsausschüsse gegeben hat, sind die staatlichen Bemühungen doch oftmals enttäuschend verlaufen. Auch der Gerichtsprozess hat sehr viele Fragen unbeantwortet gelassen. Und das, was beantwortet wurde, kam ganz oft nicht durch die Arbeit der Staatsanwaltschaft zustande, sondern ist auf die Arbeit der Nebenklagevertreter, d.h. der Anwält*innen der Betroffenen, zurückzuführen. Daher finden wir es wichtig, dass das Dokumentationszentrum diese gesellschaftliche Verantwortungsübernahme abbildet, sowohl in den Entscheidungsstrukturen als auch in der täglichen Arbeit. Letztendlich geht es uns darum, dass es die Aktiven und die Betroffenen stärken soll, ihnen Ressourcen zur Verfügung stellt und Aufarbeitung und Gedenken so voranbringt.

Das Zentrum soll unterschiedliche Aspekte und Ebenen bedienen. Es soll gleichermaßen einen Raum für Erinnerung, für Ausstellungen und politisch-kulturelle Bildungsarbeit bieten und ein Versammlungsort sein. Auch ein Archiv, eine wissenschaftliche Sammlung und eine Bibliothek sind geplant. Welche Materialien soll das Archiv umfassen und wie ergänzt das geplante Archiv die bestehenden Archive wie unseres, die schwerpunktmäßig zur extremen Rechten sammeln?

Auch in der Archivarbeit wird es darum gehen, marginalisierte Perspektiven auf den NSU-Komlex zu stärken. Wir denken, es braucht einen besonderen Fokus auf den ostdeutschen Erfahrungsraum. Gesammelt werden soll zu Perspektiven von bzw. auf die Betroffenen von rechtem Terror und rechter Gewalt, zur migrantischen Realität und zu Gegenbewegungen zur extremen Rechten. Die damit verbundenen Erfahrungen sind im öffentlichen Diskurs stark unterrepräsentiert, das wollen wir ändern. Trotzdem sollte das Archiv auch zur extremen Rechten in Sachsen sammeln, einfach weil Sachsen seit Jahrzehnten einer der Hotspots der Szene ist, aber ein Archiv mit entsprechendem Schwerpunkt bisher fehlt. Und natürlich haben hier vor Ort auch Leute Materialien dazu, diese sind aber nur schwer zugänglich und recherchierbar. Insofern sehen wir das Archiv vor allem als Ergänzung bzw. bestenfalls als Verstärkung der bestehenden Archivstrukturen.

Mit Blick auf die Diskussion über das von der Bundesregierung geplante Datenportal (Archiv) zu rechter Gewalt moniert die Studie u.a. die fehlenden rechtlichen Grundlagen, um die Aufklärung des NSU-Komplexes auch durch die Aufarbeitung der staatlichen Akten weiterführen zu können. Diese Problematik sehe ich auch, weshalb ich mit großem Interesse Euren Vorschlag eines Gesetzgebungsverfahrens aufgenommen habe, das sich an dem Stasiunterlagengesetz orientieren soll. Was würde eine solche gesetzliche Regelung für die NSU-Akten ermöglichen und wo seht Ihr die Grenzen? Und gab es darauf Reaktionen?

Das Stasi-Unterlagen-Gesetz ist 1991 entstanden und sollte zwei Dinge ausbalancieren: den Schutz von Persönlichkeitsrechten – vor allem von Betroffenen, deren intimste Details sich in diesen Akten finden können – und das Recht der Öffentlichkeit wie des einzelnen Menschen nach Aufklärung über politische Verstrickungen z.B. von Amtsträger*innen. Das war bisher das einzige Mal in der deutschen Geschichte, dass staatliche Akten nicht automatisch mit Schutzfristen versehen und unter die normale Archivgesetzgebung gestellt wurden. Man hat also eine spezifische Lösung dafür gefunden und eine eigene Behörde eingerichtet, die einen klar umrissenen Auftrag hatte zu prüfen, wie die Akten verwendet werden sollen. Diese Behörde hat von 1992 bis 2021 existiert; dann hat man nach 30 Jahren entschieden, dass sie organisatorisch in das Bundesarchiv überführt wird.

Wenn wir uns die Akten zum NSU-Komplex ansehen, dann ist das zwar ein völlig anderes Themenfeld. Die Erfordernisse sind aber dieselben: Schutz der Belange von Betroffenen und unbedingte Aufklärung politischer Verstrickungen. Insofern ist auch hier eine Extraregelung erforderlich. Hinzu kommt, dass es 2017 relativ unbemerkt eine Änderung der Archivgesetzgebung gegeben hat. Die Geheimdienste dürfen nun selbst entscheiden, ob sie als von Ihnen als geheim eingestufte Unterlagen an die zuständigen Archive abgeben, wenn sie im Amt nicht mehr gebraucht werden. Man hat damit eine bisher noch nie dagewesene Situation geschaffen, die die Idee von staatlichen Archiven – nämlich staatliche Handlungen im Nachhinein überprüfen zu können – ins Absurde führt. Aktenvernichtungen, wie sie im NSU-Komplex vorkamen, sind damit also mittlerweile legal. Das ist ein ziemliches Unding und sollte mit einem eigenen Gesetz behoben werden. Den politisch Verantwortlichen ist das auch ziemlich klar; die Grünen haben den Vorschlag, ein Gesetz nach dem Vorbild des Stasi-Unterlagen-Gesetzes zu formulieren, genauso in ihrem Bundestagswahlprogramm 2021 formuliert.

Die Veröffentlichung der Machbarkeitsstudie ist nun einige Monate her. Was hat sich seitdem getan, seid Ihr weiter gekommen?

Derzeit warten wir und wartet auch die Politik auf die Ergebnisse der Bundeszentrale für Politische Bildung, die gerade für die Bundesebene eine eigene Machbarkeitsstudie anfertigt. Das gibt uns die Chance, in die verschiedenen Städte zu fahren, die einen Bezug zum NSU-Komplex haben. Da stellen wir jeweils unsere Studie vor und diskutieren über die Idee einer bundesweiten Stiftung. Das ist für uns interessant, um ein Gespür davon zu bekommen, was lokale Bedürfnisse sind. Außerdem kann es auch eine Gelegenheit bieten, vor Ort eigene Bedürfnisse mit Blick auf die NSU-Aufarbeitung zu formulieren. Außerdem sind wir gemeinsam mit zwei anderen Vereinen daran beteiligt, für das Jahr 2025 ein Interimsdokumentationszentrum zu planen. Wenn das so klappt, dann gibt uns das ein Jahr lang die Möglichkeit, einem internationalen Publikum Betroffenenperspektiven und Wissen zum NSU-Komplex zu vermitteln und eine breite Austauschplattform zu etablieren.

Vielen Dank für das Gespräch!

Fragen: Vera Henßler