19. Oktober 1992 – Rostock: Von der Organisation FFDJF (Söhne und Töchter der deportierten Juden aus Frankreich) angebrachte Gedenktafel in Solidarität mit den Überlebenden des Pogroms in Rostock-Lichtenhagen. | Foto: Hans-Hubertus Brumberg | Quelle: Norddeutsche Neueste Nachrichten vom 20.10.1992

Ver/sammeln antirassistischer Kämpfe

Es war nicht das erste Mal in der postkolonialen Geschichte Europas, dass Archive vernichtet oder versteckt wurden, die den ehemaligen kolonialen Subjekten den Zugang zu Rechtsansprüchen eröffnet hätten. So gestand die britische Regierung 2013 ein, dass beim Rückzug aus Kenia 1963 umfangreiche Aktenbestände der Kolonialverwaltung in Geheimarchiven eingelagert worden waren. Insbesondere handelte es sich dabei um Akten, die die exzessive Gewaltanwendung im Zuge der Niederschlagung der Mau-Mau-Revolte dokumentierten. Erst durch ein transnationales Bündnis von NGOs, Rechtsanwält:innen und Historiker:innen war es gelungen, ein Eingeständnis der Existenz des Archives zu erzwingen und Entschädigungen für mehr als 5000 kenianische Staatsbürger:innen durchzusetzen.

Von Natalie Bayer, Sabine Hess und Vassilis Tsianos für das Projekt »Ver/sammeln«

Die Rettung von Archiven, von verschütteten und aktiv vergessen gemachten Geschichten, ist eminent politisch. Auch die deutsche Geschichte zeichnet sich bislang durch einen doppelten rassistischen Ausschluss aus: von Leben, die im nationalen Leitnarrativ bis heute als nicht-zugehörig markiert werden, sowie der Geschichte(n) und Stimmen, die über diesen Ausschluss Zeugenschaft ablegen (könnten). Unter dem Motto »Ver/sammeln antirassistischer Kämpfe« haben wir – eine Kooperation aus Wissenschaft, Kulturbetrieb und Aktivismus – vor einem Jahr angefangen, die reichhaltige(n) Geschichte(n) des Widerstands gegen Rassismus und Antisemitismus in Ost- und Westdeutschland aufzusuchen, gemeinsam zu erinnern und zu archivieren.

Dabei verstehen wir das Sammeln und Zusammentragen von Geschichten zu einem gemeinsamen Tableau antirassistischer Kämpfe selbst als antirassistischen Akt. Dieser bricht nicht nur mit den Politiken des Beschweigens, Bagatellisierens und Entnennens von Rassismen, welche die deutsche Debatte so zentral kennzeichnen (siehe Umgang mit dem NSU, Hanau etc.); er bricht auch mit einer weiteren zentralen produktiven Macht rassistischer Artikulationen: der Differenzierung und Hierarchisierung in vermeintlich unterschiedlich gelagerte Gruppen. Wenn sich Überlebenden-Communitys und Hinterbliebene rassistischer Gewalt das Recht zum öffentlichen Erinnern nehmen, ist dies in diesem Sinne ein radikaler Ausdruck antirassistischer Handlungsfähigkeit.

Doch die erinnerungspolitische Schwierigkeit der geteilten Erinnerung antirassistischer Kämpfe hat System. So zeigt David Theo Goldberg (2009), dass Rassismen der Gegenwart nicht nur dominanzkulturelle Formate des »Anders-Machens« institutionalisieren. Vielmehr geht mit der Kultur des Silencings von Rassismus auch eine Verleumdung antirassistischer Kämpfe einher; so kann es nicht nur keine Zeugenschaft für etwas geben, was nicht benannt und als skandalöses Unrecht verstanden wird; vielmehr werden auch die Allianzen derer geleugnet, die Rassismus erfahren, und ihn damit als systemisches gesellschaftliches-strukturelles Unrecht qualifizieren können; die Erfahrungen und Kämpfe werden auseinandergebracht, welche als Widerstand gegen Rassismus zusammengehören und seine Totalität bezeichnen könnten.

Vergangene Kämpfe

Im Rahmen des Projekts »Ver/sammeln Antirassistischer Kämpfe« schwärmten wir im letzten Jahr aus und suchten quer durch die Zeiten in Ost- und Westdeutschland einzelne Personen, Bewegungen und Gruppen auf, um mit ihnen über ihre Widerstandsgeschichte(n) sowie Arten und Weisen des Erinnerns zu diskutieren, die es erlauben, diese für heutige Kämpfe zu aktivieren. Dabei war unser Ausschwärmen von Anfang an durch ein multiperspektivisches Vorgehen geprägt, welches die Vielheit der Erfahrungen mit Rassismus und Antisemitismus und damit auch der Kämpfe angesichts der deutschen und europäischen Geschichten der gewaltvollen Produktionen von »Anderen« anerkennt. Auch wenn die Erfahrung von Konflikten, Brüchen und mangelnder Solidarität oftmals die Erzählungen von Bewegungsgeschichten kennzeichnet, haben wir den Blick auf Momente des Zusammenkommens gelegt.

Dabei ging es uns wiederum von Anfang an darum, die Erfahrungen und Zeugnisse nicht irgendwo als tote Erinnerung abzulegen, sondern eine Infrastruktur zu entwickeln, die es erlaubt, diese wachzuhalten.

Im Sinne einer Co-Artikulation von Geschichten haben wir sehr diverse Erinnerungssplitter zusammengetragen, die von unterschiedlichsten Betroffenheiten, Schmerzen, Ausschlüssen und Hierarchisierungen berichten, aber auch von der Zärtlichkeit der gegenseitigen Anteilnahme und teils unerwarteter Solidaritäten; teils wurden uns auch Tüten voller Geschichten in Form von Flyern, Fotos und Erinnerungen an Demonstrationen, Besetzungen, Hungerstreiks und ungeahnte Allianzen vorbeigebracht. Im Rahmen von Workshops haben wir zudem bereits existierende Erinnerungs- und Archivierungsinitiativen im In- und Ausland – von denen es mehr gibt, als wir auf den ersten Blick erahnten – kennengelernt und gemeinsam diskutiert, wie eine derartige Archivierung antirassistischer Kämpfe aussehen könnte. Dabei ging es uns wiederum von Anfang an darum, die Erfahrungen und Zeugnisse nicht irgendwo als tote Erinnerung abzulegen, sondern eine Infrastruktur zu entwickeln, die es erlaubt, diese wachzuhalten, bereitzustellen für gemeinsame Diskussionen und notwendige Versuche eines anderen antirassistischen Morgens. Wie läßt sich also ein Archiv antirassistischer Kämpfe antirassistisch und im Sinne einer ermöglichenden und demokratischen Infrastruktur bauen, die das Recht auf eigene Geschichte, die Schmerzen, wie die spaßvollen und empowernden Momente genauso wie die ganzen Auseinandersetzungen, Brüche und Abbrüche, möglich macht zu thematisieren?

Als einen ersten Schritt hierfür haben wir für drei Tage (19.-21.5.2022) zu einem offenen Archiv im Sinne einer Assembly antirassistischer Kämpfe ins Theater Hebbel am Ufer (HAU) wie auch einer Archiv-Ausstellung ins Friedrichshain-Kreuzberg-Museum (FHXB-Museum) in Berlin geladen. In Form von elf Workshops, Podiumsdiskussionen und einem offenen begehbaren Archiv in den Gängen und Rängen des Theaters haben wir die Geschichte(n) des feministischen Antirassismus, des jüdischen Aktivismus und Widerstands gegen Antisemitismus, der Kämpfe in der DDR und Ostdeutschlands, von Geflüchteten, von Rom:nja und Sinti:zze, gegen Racial Profiling und Verdrängung, um würdiges Erinnern und das Recht auf Geschichte mit zahlreichen Gruppen, Initiativen, Hinterbliebenen, Angehörigen und Betroffenen rassistischer Gewalt auf die Bühne gebracht. Wir haben uns mit den Dynamiken, Konjunkturen und Bedingungen antirassistischer Proteste, Gegenwehr und Organisierung beschäftigt, Gemeinsamkeiten erfahren und Konfliktpunkte und Brüche diskutiert und uns gefragt, wie all dieses versammelte Wissen in Form lebendiger Körper und Erfahrungen, wie auch in Form von Unmengen Materialien archiviert und die aus all dem sprechende Aufforderung, es für zukünftige Generationen und Kämpfe zu re-aktivieren, bewerkstelligt werden kann.

Antirassistische Zukünfte

Einen temporären Versuch, wie ein Archiv antirassistischer Kämpfe ausschauen und sich anfühlen könnte, haben wir mit der Installation des »Offenen Archivs als Debattenraum« im FHXB-Museum unternommen. Im FHXB-Museum ist für die nächsten Monate ein offenes Archiv mit den ersten Ergebnissen des Sammelprozesses entstanden. Das Kernstück dieses Raumes bilden Regale mit vielen Boxen, in der Mitte des Raumes steht ein großer runder Tisch zum Ver/sammeln und um mit den Materialien zu arbeiten. Einige der Boxen enthalten das bisher gesammelte Material. Ein Großteil der Boxen ist aber noch nicht gefüllt – sie verdeutlichen die Leerstellen des Wissens über Antirassismus. Sie stehen aber auch bereit, um sie im Laufe der Zeit mit weiteren Materialien und Geschichten antirassistischer Kämpfe zu ergänzen und sind als Aufforderung zu verstehen, eigene Erinnerungen an antirassistische Kämpfe und Widerständigkeiten einzubringen. In Veranstaltungen und Workshops werden wir fortan in das offene Archiv als Debattenraum dazu einladen, eigene Bilder, Poster, Flugschriften, Unterlagen, Zeitschriften und dergleichen mitzubringen und ins Archiv einzuspeisen. Nur in gemeinsamer Arbeit können wir das Wissen über antirassistische Kämpfe vergrößern und herrschende Geschichtserzählungen herausfordern.

Das offene Archiv lädt alle ein, sich am Aufbau von »Versammeln antirassistischer Kämpfe« zu beteiligen und Teil des Netzwerks zu werden. Kontaktieren Sie uns gerne im Museum und digital unter: www.versammeln-antirassismus.org.