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Die defekte Tastatur des NSU-Watch-Protokoll-Rechners

Neben allerlei neonazistischen und extrem rechten Kuriositäten findet sich in einer Glasvitrine in den Räumlichkeiten des apabiz auch eine Notebook-Tastatur, deren Zustand mit »defekt« eher beschönigend beschrieben wäre. Es handelt sich um die erste Tastatur des Rechners, der von NSU-Watch zum Mitschreiben im Münchener NSU-Prozess angeschafft wurde.

Von Sebastian Schneider (NSU-Watch)

Der Rechner wurde im Frühjahr 2013 gekauft. NSU-Watch hatte zu dem Zeitpunkt bereits mit der Beobachtung und Dokumentation des ersten NSU-Untersuchungsausschusses im Bundestag Erfahrungen gesammelt, in einzelnen Bundesländern fanden sich später NSU-Watch-Gruppen zusammen, um die dortigen Untersuchungsausschüsse kritisch zu begleiten. Der Prozessbeginn in München war angekündigt für den April, verzögerte sich dann aber bis zum 6. Mai 2013. Bei der Beschaffung des Protokoll-Rechners war Robustheit ein wesentliches Kriterium. Der Rechner würde, soviel stand fest, mit einer der prozessbeobachtenden Personen viel durch die Republik reisen. Vor allem aber würde er dazu eingesetzt, möglichst viel vom Prozessgeschehen im Saal A 101 des Münchner Strafjustizzentrums in der Nymphenburger Straße mitzuschreiben. Als NSU-Watch die Prozessbeobachtung aufnahm, dachten wir genauso wie manche andere, diese Arbeit in München in etwa zwei Jahren beendet zu haben. Es wurden schließlich fünf Jahre und zwei Monate; 438 Prozesstage waren wir täglich mit mindestens einer Person – meist aber zu zweit oder zu dritt – vor Ort und haben den Verlauf der Verhandlung mitgeschrieben. Es war uns anfangs also nicht klar, welch immensen Umfang der Prozess annehmen würde und wie viele Seiten Mitschrift wir bis zum 11. Juli 2018 würden anfertigen müssen.

Auf der für die Öffentlichkeit bestimmten Tribüne des Saals – im rechten, für die Presse reservierten Bereich – saßen wir für gewöhnlich in der letzten oder vorletzten Reihe zwischen anderen Journalist*innen. Die meisten Journalist*innen hatten ihre Notebooks auf den Knien, das Geklacker der diversen Tastaturen war nicht zu überhören. Unsere primäre Aufgabe als NSU-Watch-Beobachter*innen war es, möglichst viel von dem, was im Rahmen des Prozessgeschehens gesagt wird, möglichst genau mitzuschreiben – ohne Rücksicht auf Tippfehler – und später lesbare Protokolle daraus anzufertigen und zu veröffentlichen. Auch wir sind nicht als Dokumentar*innen oder NSU-Expert*innen vom Himmel gefallen, sondern haben mit unserer Arbeit nach dem »Do it yourself«-Prinzip einfach begonnen, wir haben uns diese Form von Professionalität erst erarbeitet. Dementsprechend haben sich beispielsweise unsere Protokolle aus dem Prozess im Laufe der Zeit deutlich verändert.

Von Strafprozessen gibt es in Deutschland, anders als in anderen Ländern, kein Wortprotokoll – das Gerichtsprotokoll umfasst lediglich den formalen strafprozessualen Ablauf –, auch Ton- oder Bildaufnahmen von Prozessen gibt es in Deutschland nicht. Von dieser Regel gibt es in der bundesdeutschen Rechtsgeschichte zwar auch Ausnahmen, so existieren etwa vom ersten Frankfurter Auschwitz-Prozess Tondokumente. Diese wurden jedoch lediglich als Gedächtnisstütze fürs Gericht angefertigt und gelangten erst Jahrzehnte später an die Öffentlichkeit. Zu Beginn des Münchener NSU-Prozesses stellten Verfahrensbeteiligte Anträge, dass die Hauptverhandlung wörtlich protokolliert oder aufgezeichnet wird. Aufgrund der herausragenden zeithistorischen Bedeutung des Verfahrens wäre dies wohl auch angemessen gewesen, die Anträge wurden jedoch vom Gericht abgelehnt. Im Magdeburger Prozess zum antisemitischen und rassistischen Anschlag in Halle 2019 dagegen entschied das Gericht, dass Tonaufnahmen angefertigt werden – auch weil sich zwischenzeitlich die rechtlichen Voraussetzungen geändert hatten. Diese Aufnahmen werden der Öffentlichkeit jedoch erst nach Ablauf von mindestens 30 Jahren in einem Archiv zugänglich sein.

Das Beobachten und Dokumentieren von Gerichtsprozessen wegen rassistischer Taten und gegen Neonazis war auch 2013 selbstverständlich keine neue antifaschistische Praxis. Neu war vor allem der beschriebene Umfang des NSU-Prozesses und der Prozessbeobachtung. Dieser hängt natürlich zusammen mit den Taten des NSU: den Morden an Enver Şimşek, Abdurrahim Özüdoğru, Süleyman Taşköprü, Habil Kılıç, Mehmet Turgut, İsmail Yaşar, Theodoros Boulgarides, Mehmet Kubaşık, Halit Yozgat und Michèle Kiesewetter; den Bombenanschlägen in der Nürnberger Gaststätte Sonnenschein, in der Probsteigasse und in der Keupstraße in Köln; den mindestens 15 Raubüberfällen. Er hat damit zu tun, dass der NSU über 13 Jahre hinweg ungehindert morden und Anschläge verüben konnte, dass die Rolle des Staates weiterhin nicht aufgeklärt war und ist, und er hat zu tun mit der Bedeutung des institutionellen und gesamtgesellschaftlichen Rassismus im NSU-Komplex.

Antifaschistische Prozessbeobachtung erlaubt Einblicke in neonazistische und extrem rechte Strukturen und Ideologien. Sie erlaubt Einblicke darin, wie Rassismus, Antisemitismus und rechte Gewalt funktionieren und wie gefährlich falsch der Staat mit ihnen meist umgeht. Sie ist aber auch eine Form der praktischen Solidarität mit den Betroffenen, kann notwendige Aufmerksamkeit für das Thema erzeugen und auf Behörden Druck zur Aufklärung ausüben.

Die Seitenzahl der NSU-Watch-Mitschriften des Münchener Prozesses lässt sich nicht so einfach feststellen. Einen Eindruck vermittelt aber die Beschriftung des Ausstellungsstücks »Tastatur« in der Glasvitrine: »Nach 3,5 Jahren und 315 Prozesstagen = 13.000 Seiten Protokoll gab die Tastatur des NSU-Watch-Protokoll-Rechners auf.« Die Zahl 13.000 ist grob überschlagen, möglicherweise liegt sie ein wenig zu hoch. Sie gilt auch nur für eine der protokollierenden Personen, denn je nach mitschreibender Person und der Art, wie sie mitschreibt – zum Beispiel wie viele Absätze sie macht –, beliefen sich die Zahlen bei einem durchschnittlichen Prozesstag auf 10 bis 20 bzw. 20 bis 40 Seiten. Die Dimensionen des Prozesses und der Dokumentation aber macht die grobe Zahl 13.000 allemal klar. Im Herbst 2016 waren einige Tasten auf der Tastatur des Rechners abgewetzt, die Leerzeichentaste beispielsweise so weit, dass sie an einer Stelle durchsichtig ist. Einige Tasten waren kaum noch funktionsfähig, blieben hängen. Es war also Zeit, die defekte gegen eine funktionstüchtige Tastatur austauschen zu lassen und die alte ihrem neuen Bestimmungsort in der Glasvitrine zuzuführen.

 

Foto: apabiz

Antifaschistische Prozessbeobachtung erlaubt Einblicke in neonazistische und extrem rechte Strukturen und Ideologien. Sie erlaubt Einblicke darin, wie Rassismus, Antisemitismus und rechte Gewalt funktionieren und wie gefährlich falsch der Staat mit ihnen meist umgeht. Sie ist aber auch eine Form der praktischen Solidarität mit den Betroffenen, kann notwendige Aufmerksamkeit für das Thema erzeugen und auf Behörden Druck zur Aufklärung ausüben. Auch wenn das Urteil wie erwartet enttäuschend war, gilt für den Münchener NSU-Prozess, was Nebenklagevertreter Alexander Hoffmann bei der Kundgebung am Tag der Urteilsverkündung vor dem Gerichtsgebäude feststellte: »Das Wissen über den Verfassungsschutz, staatlichen Rassismus, institutionellen Rassismus, das Wissen über die organisierten militanten Neonazis, das ist in der Welt, das ist geschaffen, das haben wir, das wird auch ein Urteilsspruch nicht aus der Welt schaffen.«

NSU-Watch hat deshalb nach dem Prozess in München nicht aufgehört mit seiner Arbeit. Wir verstehen unsere Arbeit aber auch als Aufruf an andere antifaschistisch und antirassistisch aktive Menschen, Prozesse und auch parlamentarische Untersuchungsausschüsse zu beobachten und zu dokumentieren. Die wenigsten Strafprozesse nehmen Dimensionen an wie der Münchener NSU-Prozess, um Notebook-Tastaturen muss man sich also üblicherweise keine Sorgen machen.

Die Arbeit von NSU-Watch gibt es auch zum Hören als Podcast. Dieser berichtet alle zwei Wochen über aktuelle Entwicklungen im NSU-Komplex aber auch aktuelle Entwicklungen des rechten Terrors und des gesellschaftlichen Rechtsrucks.