Medienschau: Wieviel Chemnitz steckt in Berlin?

In Chemnitz und Köthen gingen tausende sogenannte besorgte Bürger,  AfD-Funktionäre und gewaltbereite Rechtsextremisten auf die Straße.  Menschen wurden gejagt und bedroht. Sind solche Szenen auch in Berlin möglich?  Wie steht es um die rechtsextreme Szene in der Hauptstadt? An einem Montagabend Anfang September stehen etwa 30 Demonstranten, die meisten von ihnen Männer in Shorts, vor dem Berliner Hauptbahnhof und schwenken Fahnen. Schwarz-rot-gold ist dabei, schwarz-rot-gold mit fünf Sternen, aber auch schwarz-weiß-rot – die Reichsflagge. Aus einer knarzenden Box dringt Musik: Xavier Naidoo, eine Liedermacher-Version von „Die Gedanken sind frei“; später werden die Demonstranten auch singen – das Lied der Deutschen, in allen drei Strophen, inklusive der verrufenen ersten: „Deutschland, Deutschland über alles.”

Die Ausschreitungen von Chemnitz liegen an diesem Tag zwei Wochen zurück. Mehrere tausend Menschen, darunter bundesweit bekannte Neonazis und AfD-Abgeordnete, waren durch die sächsische Stadt marschiert, hatten Menschen gejagt und Journalisten bedroht. Die Bilder von jungen Männern, die vor den Augen überforderter Polizisten den Hitlergruß zeigen, hatten es bis in internationalen Medien geschafft.

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Die Nazis der 90er sind wieder da

Frank Metzger arbeitet für das Antifaschistische Pressearchiv und Bildungszentrum Berlin (Apabiz), eines der größten Archive zum Thema Rechtsextremismus in Deutschland; der Verein sammelt rechtsextremistische Bücher und Broschüren, dokumentiert Demos.

Extrem rechte Demonstrationen und Eskalationen in der Größenordnung von Chemnitz halte er in Berlin derzeit für unwahrscheinlich, sagt Metzger. Schließlich gebe es in der Stadt eine über Jahre gewachsene zivilgesellschaftliche Struktur, etliche antifaschistische und antirassistische Initiativen sowie Politiker, die sich deutlich gegen die extreme Rechte positionieren würden. All das, sagt er, existiere in Bundesländern wie Sachsen oder Sachsen-Anhalt außerhalb der großen Städte in dieser Form nicht.

Dass es der rechten Szene aber auch in Berlin gelingen kann, binnen kurzer Zeit Demonstranten aus den unterschiedlichsten Lagern zu mobilisieren, hätten nicht zuletzt die vergangenen Jahre gezeigt.

Da war der „braune Dienstag“, der 9. Juli 2013. Vertreter des Bezirks Marzahn-Hellersdorf hatten Anwohner in den Hof einer Schule geladen, die zu einem Asylbewerberheim umfunktioniert werden sollte. Thomas Crull, ein ehemaliger NPD-Kandidat im Bezirk, mobilisierte daraufhin mehrere Anhänger des rechtsextremen Spektrums zu der Veranstaltung, die diese dann als Bühne nutzten. Dabei wurden erstmals auch T-Shirts mit dem Aufdruck „Nein zum Heim“ verteilt – ein Ausspruch, der bundesweit zum Slogan der Asylgegner wurde.

Als ein Jahr später in Marzahn eine Asyl-Unterkunft entstehen sollte, gelang es einem anderem Zusammenschluss, der „Bürgerbewegung Marzahn/Hellersdorf“, über Monate hinweg, Protestdemos zu organisieren. Bis zu 1.000 Demonstranten kamen damals zusammen, aus verschiedensten Neonazi-Strukturen. Eine „Art Vorbild für die rechtsextreme Szene in ganz Deutschland“, sagt Bianca Klose.

Frank Metzger beobachtete damals etwas, das er in Chemnitz nun wieder sieht und das auch bei den Pegida-Protesten in Dresden deutlich wurde: Teilweise sind dieselben Menschen auf der Straße, die schon Anfang der 90er-Jahre, teils in Neonazi-Strukturen organisiert, gegen die Aufnahme von Flüchtlingen demonstrierten, dann aber jahrelang nicht mehr öffentlich wahrnehmbar waren. Die ehemalige Kameradschaft Mahlsdorf etwa, die 2013 in Berlin wieder auftauchte. Oder verschiedene Hooligan-Gruppen, die nun in Chemnitz erneut mitmarschierten.

Die Demonstrationen in den 90ern seien Metzger zufolge nicht nur mit tödlichen Angriffen und Brandanschlägen einhergegangen, sondern hätten auch zur Verschärfung des Asylrechts geführt. „Auf Letzteres hoffen die Demonstranten auch heute.“ Gemeint ist der 1993 beschlossene sogenannte Asylkompromiss, bei dem unter anderem das Prinzip der sicheren Drittstaaten und Herkunftsländer eingeführt wurde; die Zahl der Asylgesuche ging daraufhin zurück.

Von der Peripherie ins Zentrum der Macht

Und noch etwas hat Metzger beobachtet: Die Demonstrationen in Berlin haben sich in den letzten Jahren verlagert. Sie rückten von der Peripherie – dort, wo die neuen Asylbewerberheime entstanden – ins Zentrum der Stadt und damit der Macht.

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Mehr: Zitty (online) vom 10.10.2018