München am Tag des Urteils im ersten NSU-Prozess  Foto: Robert Andreasch

Kritische Begleitung – Ein Blick zurück

Der 11. Juli 2018 war der lang herbeigesehnte Tag der Urteilsverkündung im ersten NSU-Prozess. NSU-Watch hat den Prozess am Münchener Oberlandesgericht über fünf Jahre kontinuierlich begleitet. Mit dem Urteil verbinden viele die Frage: War es das wert? War die viele Arbeit sinnvoll?

Von Caro Keller (NSU-Watch)

Am 11. Juli 2018 verließ der im ersten NSU-Prozess angeklagte André Eminger nach fast einem Jahr Untersuchungshaft unter dem Applaus seiner Kameraden das Gerichtsgebäude in der Nymphenburger Straße in München auf freiem Fuß. Eine Woche später konnte auch sein Mitangeklagter Ralf Wohlleben unter Auflagen das Gefängnis verlassen. Zwei überzeugte Neonazis und vorläufig verurteilte Rechtsterroristen kehrten in ihren Alltag zurück, in dem sie als Helden der Szene gefeiert werden.

Diese Szenen und die schon so lange erwartete Urteilsverkündung am 11. Juli 2018 stellen Viele vor die Sinnfrage: Wozu das alles? Hat sich die ganze Arbeit wirklich gelohnt?

Wir, NSU-Watch, waren jeden Tag im Saal A101 und haben alles mitgeschrieben, denn ein offizielles Protokoll gab es nicht. Wir werden die Worte und Geschichten der Angehörigen der Mordopfer des NSU und der Überlebenden nie vergessen, die immer wieder die Kraft fanden, im Prozess ihren Schmerz, ihre Geschichten aber auch ihre Hoffnungen auf Aufklärung und Gerechtigkeit zu teilen. Wir hörten, wie Vertreter*innen der Nebenklage unermüdlich immer neue Fakten zu Tage und mittels Beweisanträgen in den Prozess förderten. Anfangs war dies noch erfolgreich, doch in den letzten Jahren wurden diese Anträge überwiegend vom Senat abgelehnt. Dennoch war damit das Wissen in der Welt.

Wir sahen die andere Seite, die Neonazis und Vertreter*innen der Verfassungsschutzämter, lügen und sich in Erinnerungslücken flüchten.

Von dieser Beweisaufnahme im ersten NSU-Prozess, die trotz aller Schwierigkeiten die Dimensionen des NSU-Komplexes umriss, blieb in der Urteilsbegründung nichts übrig. Keine Worte für die Angehörigen und Überlebenden, kein großes Unterstützungsnetzwerk, keine Erwähnung der Mitschuld der Sicherheitsbehörden, keine Anmerkungen zur gesellschaftlichen Dimension oder gar zum Rassismus, der den NSU erst ermöglichte.

Als sich unser bundesweites antifaschistisches Bündnis 2012 den Namen NSU-Watch gab, hatten schon Monate lang Antifaschist*innen in unterschiedlichen Konstellationen ihre Archive und Erinnerungen durchkämmt, um Informationen zu dem zu sammeln, was im November 2011 bekannt wurde. Mit zwei toten Neonazis im Wohnmobil waren die alten, von manchen Antifaschist*innen nie vergessenen, Namen wieder da: Uwe Mundlos , Uwe Böhnhardt , Beate Zschäpe . Und mit ihnen die in den 1990ern ausrecherchierten Strukturen, der Thüringer Heimatschutz mit seinen bundesweiten und internationalen Verbindungen. All dies ließ sich mit den Fotos und Recherchen nachweisen. In den alten Neonazi-Fanzines ließ sich zudem nachlesen, was der NSU umgesetzt hatte: Die rechten Terrorkonzepte.

Gleichzeitig und angesichts des vielen Materials, das innerhalb weniger Monate zusammengestellt werden konnte, wurde aber auch klar: Trotz all dem hatten Antifaschist*innen den NSU vor 2011 nicht wahrgenommen. Wir konnten den Nazis bei ihrer Mord- und Anschlagsserie nicht in den Arm fallen.

Das ist die Rolle, die die antifaschistische Linke im NSU-Komplex einnimmt. Wir haben die Angehörigen und haben die Angehörigen und als sie öffentlich auf ein mögliches rechtes Motiv der Morde und Anschläge hinwiesen, 2006 sogar mit zwei Demonstrationen in Kassel und in Dortmund mit mehreren Tausend Menschen. Wir haben den Familien der Ermordeten nicht beigestanden, als die Polizei rassistisch gegen sie ermittelte und gemeinsam mit den Medien rassistische Stories über ihre ermordeten Verwandten erfanden.

Das Urteil im ersten NSU-Prozess ist unbestreitbar ein Zeichen in die Neonazi-Szene, dass rechter Terror möglich ist und weitestgehend ungestraft bleibt.

All das ist Grund und Motivation, über ein erstes Aufarbeiten hinaus die Aufklärung des NSU-Komplexes als Antifaschist*innen kritisch zu begleiten. Konkret hieß und heißt das, dass Aktivist*innen von NSU-Watch landauf, landab in parlamentarischen Untersuchungsausschüssen und eben in dem Prozess in München auf den Plätzen für die Öffentlichkeit sitzen und mitschreiben. Das Mitgeschriebene wird in Protokolle, Berichte und Zusammenfassungen verwandelt und der Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt. Da wir uns aber nicht nur als Beobachtende, sondern als Akteur*innen in der Aufklärung des NSU-Komplexes verstehen, dürfen eigene Analysen und Interventionen nicht zu kurz kommen. All dies bedeutet viel Arbeit in den Landesprojekten von NSU-Watch und der Bundesstruktur, die immer wieder unterschätzt wurde.

Sich so nah an die staatliche Aufklärung des NSU-Komplexes heranzuwagen wurde häufig von außerhalb unseres Bündnisses kritisiert und auch von uns stets kritisch im Hinterkopf behalten. Spielt doch der Staat mit Polizei und den Verfassungsschutzämtern eine eigene Rolle bei der Hervorbringung des NSU und seinem Unentdecktbleiben. Wie sollten staatliche Stellen hier für Aufklärung sorgen? Wäre es nicht besser, da einfach von außerhalb zu kritisieren? All die Fakten und Puzzlestücke, die wir ohne diese Beobachtung einfach verpasst hätten, überzeugen uns vom
Gegenteil.

Wer sich am NSU-Komplex abarbeitet, muss trotzdem auch immer wieder ohnmächtig zusehen, wie all diese Gremien und mit ihnen die Gesellschaft keine folgerichtigen Schlüsse aus ihren Ergebnissen ziehen. Der Verfassungsschutz wurde nicht aufgelöst, sondern mit mehr Mitteln ausgestattet. Spätestens seit 2013 erleben wir einen Rechtsruck der Gesellschaft, der mit einer Abschaffung der Bedingungen, die den NSU hervorbrachten, nicht möglich gewesen wäre. Bis heute werden Betroffene von Rassismus und rechtem Terror nicht als Hauptzeug*innen des Geschehenen gehört und ernst genommen. Vielmehr interessiert sich das Publikum für die Gefühle der Täter*innen, allen voran von Beate Zschäpe. Doch all dies war bei einer deutschen Aufarbeitung von rechtem Terror natürlich erwartbar.

Am Tag der Urteilsverkündung in München forderten mehr als 5000 Demonstrierende »Kein Schlussstrich!« Foto: Kilian Behrens / apabiz

Die Nebenklage im NSU-Prozess, Journalist*innen, engagierte Abgeordnete, Aktivist*innen, Antifaschist*innen, NSU-Watch – wir alle haben über die letzten sieben Jahre ein Wissen über den NSU-Komplex, über Neonazis, rechten Terror, Rassismus, die Polizei, den Verfassungsschutz und nicht zuletzt die deutsche Gesellschaft erarbeitet und errungen, das auch ein niederschmetterndes Urteil im NSU-Prozess nicht zunichte machen kann.

Dieses Wissen zeigt auf die (antifaschistischen) Perspektiven und Handlungsmöglichkeiten. Der gesellschaftliche Rechtsruck bringt rechten Terror mit sich. Nicht nur beim OEZ-Attentat in München wurde er bereits Realität. Es ist nicht erkennbar, dass gesellschaftlich wirklich aus dem NSU-Komplex gelernt wurde. Der Verfassungsschutz gilt den Medien wieder als verlässliche Quelle zur extremen Rechten und spielt die Gefahr rechten Terrors regelmäßig herunter. Von der mutmaßlichen Finanzierung der Neonaziszene durch die ununterbrochene Führung von V-Leuten ganz zu schweigen. Die Polizei erkennt rechte Anschläge und rechten Terror selbst mit »Bekennerschmierereien« und Hitlergruß nicht. Rassistische Übergriffe und Hetze kommen aus allen Ecken der Gesellschaft.

Wer sich mit dem NSU-Komplex ernsthaft auseinandersetzt, hat diese Dynamik, dieses gesellschaftliche Zusammenspiel, das zum rechten Terror dazu gehört, klar vor Augen. Dieses Wissen muss eine weitere Verbreitung finden zusammen mit der Forderung, dass dies aufhören muss. Dabei können wir als Antifaschist*innen eines
mit Sicherheit tun: Die eigene Rolle beim gesellschaftlichen Mittun am rechten Terror ändern. Wir wissen, wie rechter Terror funktioniert, und wie ernst diese Bedrohung zu nehmen ist. Wir nehmen die eigenen Analysen ernster und versuchen mit unseren Recherchen, aufzudecken, was passiert ist und was geplant ist. Die große Veröffentlichung zu Combat18 durch antifaschistische Gruppen vor kurzem zeigt, dass dies möglich ist. Wir hören Betroffenen und Überlebenden von rechten Anschlägen zu und unterstützen sie, anstatt sie allein zu lassen. Dass dies einen großen Unterschied macht, zeigt uns zum Beispiel die Initiative für die Aufklärung des Mordes an Burak Bektaş seit 2012.

Das Urteil im ersten NSU-Prozess ist unbestreitbar ein Zeichen in die Neonazi-Szene, dass rechter Terror möglich ist und weitestgehend ungestraft bleibt. Doch wir vergessen die Beteiligten nicht, wir werden weiterhin alles daran setzen, die Namen aller Neonazis des Unterstützungsnetzwerks herauszufinden. Die Straf- und Konsequenzlosigkeit ist und bleibt ein fatales Zeichen, aber ein neuer NSU ist kein unabwendbares Schicksal. Da werden wir als Antifaschist*innen dieses Mal mitzureden haben.

Dieser Artikel erschien zuerst im Antifaschistischen Infoblatt (AIB) Nr. 120 (Herbst 2018).


NSU-Watch gibt es auch zum Hören als Podcast: »NSU-Watch: Auf klären & Einmischen. Der Podcast über den NSU-Komplex, rechten Terror und Rassismus«. Alle zwei Wochen unterhalten wir uns über aktuelle Entwicklungen im NSU-Komplex, aber auch aktuelle Entwicklungen des rechten Terrors und des gesellschaftlichen Rechtsrucks. https://nsu-watch.info/podcast