Im »Rassenkrieg« – Von der Nationalsozialistischen Bewegung zum NS-Untergrund

Seit der Selbstenttarnung des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) Ende 2011 muss die Geschichte der Neonazi-Szene und des von ihr betriebenen Terrors mit anderen Augen gesehen werden. Der Blick zurück erfolgt aus schmerzhaften Gründen. Denn aus der Furcht und den Ahnungen der in den 2000er-Jahren von einer beispiellosen Mordserie betroffenen Familien ist die Gewissheit geworden, dass ihre Angehörigen und Freunde Opfer von Neonazis geworden sind. Und dass sie selbst jahrelang von einseitig und rassistisch ermittelnden Behörden als Verdächtige überwacht und bespitzelt worden sind.

von Ulli Jentsch (apabiz / NSU-Watch)

zuerst erschienen in: Kleffner, Heike und Anna Spangenberg (Hrsg.): Generation Hoyerswerda. Das Netzwerk militanter Neonazis in Brandenburg, Berlin 2016. Vielen Dank an den be.bra Verlag für die Abdruckgenehmigung.

Wer heute den Blick zurück auf die 1990er-Jahre richtet, muss bedenken, dass in diesen Jahren auch die politischen Biografien von Beate Zschäpe, Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos begannen. Dass sie in den Jahren kurz nach der Entstehung der neuen, größeren Bundesrepublik das aktiv erlebten und gestalteten, was sie zu dem werden ließ, was sie waren: eine verschworene Truppe von bewaffneten, mörderischen Rassistinnen und Rassisten. In dem Bemühen, die Entstehung und das gesamte Netzwerk des NSU aufzudecken, hat eine erneute Spurensuche zu den Wurzeln des Rechtsterrorismus in Deutschland begonnen. Was hat Teile der neonationalsozialistischen Bewegung inspiriert, in den Untergrund zu gehen? Nicht nur die Fäden der persönlichen und der politischen Biografien des späteren NSU lassen sich zurückverfolgen bis in die frühen Jahre des wiedervereinigten Deutschlands. Sie teilen mit vielen ihrer späteren Weggefährtinnen und Weggefährten aus Ost und West die Erfahrungen einer ganzen Generation von Neonazis, die zum Teil noch heute aktiv sind.

Die frühen 1990er-Jahre waren die Zeit der »Generation Hoyerswerda«, aus der sich bis zum Ende des Jahrzehnts eine »Generation Terror« entwickeln sollte. Die erste Welle der rassistischen Gewalt seit 1990 lässt sich datieren »zwischen dem ersten Pogrom im wiedervereinigten Deutschland im August 1991 in Hoyerswerda (Sachsen), dem Pogrom im August 1992 in Rostock-Lichtenhagen und der De-facto-Abschaffung von Artikel 16 des Grundgesetzes im Mai 1993«.[1] Die schiere Menge rassistischer Gewalt konnte durch die Presse zum Teil nur noch summarisch aufgelistet werden. Ein Wochenende im September 1992 fasste die »taz« unter der Überschrift »Die Schwerpunkte der Randale lagen in Brandenburg« wie folgt zusammen: »Etwa 150 Jugendliche belagerten Samstag- und Sonntagnacht die Zentrale Anlaufstelle für AsylbewerberInnen (ZAST) in Eisenhüttenstadt, warfen unter Beifall der Umstehenden Steine und Brandsätze. Eine durch den Bundesgrenzschutz verstärkte Polizei hatte die ZAST, in der derzeit 2.000 Menschen wohnen, abgesperrt. Sie konnte eine Stürmung des Gebäudes verhindern und nahm 24 Jugendliche fest. Weitere Anschläge in Brandenburg richteten sich gegen ein Asylbewerberheim in Lübbenau bei Cottbus, wo 100, teils vermummte Rechte randalierten und gegen Unterkünfte in Kremmen, Wittenberge, Lychen, Gandow-Lenzen und Prenzlau. Auch vor der Cottbuser Flüchtlingsunterkunft, die letzte Woche mehrfach angegriffen worden war, nahm die Polizei vier Jugendliche wegen Verstoßes gegen das Waffengesetz fest. […] Ebenso konnte ein starkes Polizeiaufgebot in Bernau bei Berlin einen Angriff von etwa 80 Jugendlichen auf das Flüchtlingsheim verhindern.«[2]

Ein »Angriff von etwa 80 Jugendlichen« auf ein Flüchtlingsheim war nur noch eine Randnotiz von einem Satz. So ging es weiter, Woche für Woche. Bereits während des Pogroms in Rostock im Vormonat hatte ein dort beteiligter Nazi-Aktivist der Presse in den Block diktiert: »Aktionen überall dort, wo durch soziale Not und durch Asylanten sich die Bevölkerung in einer hochexplosiven Stimmung befindet«; als nächste Ziele gab er Eisenhüttenstadt, Magdeburg-Olvenstedt, Halle-Neustadt und Joachimsthal am Werbellinsee an.[3] Die tagelangen Angriffe auf die ZAST in Eisenhüttenstadt, über die sich in der Stadt selbst bis heute ausgeschwiegen wird, brachten die ostbrandenburgische Kleinstadt in die internationale Presse. Angesichts der damals vor Ort agierenden Mischung von Leuten wird verständlich, warum heute viele bei den Krawallen vor Flüchtlingsunterkünften in Heidenau und Freital an die Ereignisse der 1990er-Jahre denken müssen: »Achtjährige Kinder hätten in Begleitung ihrer Eltern nachts um eins bei den gewalttätigen Ausschreitungen gegen die ZAST in Eisenhüttenstadt ›mitgemischt‹. Das stellte ein sichtbar fassungsloser FDP-Abgeordneter […] am Mittwoch fest. Sonntag früh, 1.30 Uhr, rund hundert Randalierer werfen Brandflaschen, liefern sich –von Anwohnern moralisch unterstützt – eine stundenlange Schlacht mit Polizei und Bundesgrenzschutz. […] Die Gewalttäter haben sich mit Tüchern vermummt.«[4]

In dem Mob von »Anwohnern« agierten die gewalttätigen Kerne der neonazistischen Szene wie selbstverständlich als »Deutschlands rechte Polizei« (so der schon 1989 von der Band Störkraft erhobene Anspruch). Sie inszenierten den nachbarschaftlichen Rassismus indes nicht, sondern heizten ihn an, gaben ihm Ausdruck und Ziel. Während der täglichen, vor allem am Wochenende eskalierenden Angriffe auf Flüchtlinge, damals auch »ausländerfeindlicher Terror« genannt, wurde die Macht der Straße gegen den zurückweichenden Staat für die rechten Angreifer erlebbar.[5] Organisierte Kader der dominierenden Nazigruppen jener Zeit waren fast immer dabei: die Deutsche Alternative (DA), die Nationalistische Front (NF) und ihre Nachfolgestrukturen wie das Förderwerk Mitteldeutsche Jugend (FMJ).[6] Zur selben Zeit – parallel und vielfach miteinander verknüpft – war Brandenburg ein Eldorado für die Rechtsrock-Szene. Wie in dem Artikel »White Power Skinheads« in diesem Band beschrieben, haben die Konzerte jener Jahre »maßgeblich dazu beigetragen, eine ganze Generation von Rechten zu radikalisieren und zu organisieren«. Diejenigen, die diese Events organisierten, waren die Talente der Bewegung: strategische Macher,[7] gut vernetzt sowohl lokal als auch ins Ausland. Sie wurden die Importeure einer neuen, moderneren neonazistischen Ideologie, die mit den internationalen Netzwerken nach Deutschland kam und die politischen Terrorismus legitimierte: die Idee eines militanten, im Ernstfall bewaffneten »Rassenkrieges« gegen ein vermeintlich »jüdisch beherrschtes System«. »Für die Reinheit unserer Rasse sind wir bereit / zu den Waffen zu greifen / es kommt unsere Zeit«, so textete die Band Kraftschlag 1992. Diese Textstelle ist paradigmatisch für die Zeit der frühen 1990er-Jahre, als sich die Distanz zwischen Skinhead-Szene und organisiertem Neonazismus verringerte: »In keiner anderen Phase in der Geschichte des RechtsRock wurden derart viele Texte mit offenen Mordaufrufen und übelster Hetze geschrieben wie in der Zeit zwischen 1989 und 1993.«[8]

Dabei waren die Konzerte nicht allein Orte geselliger Zusammenkunft oder Momente der Selbstvergewisserung. Aus vielen Aussagen von ausgestiegenen Nazis ist bekannt, dass es vor allem Treffpunkte für die Szene-Größen waren: Hier besprach man bei einem Bier die nächsten Projekte, klärte Differenzen und verteilte die Arbeit, gegebenenfalls auch Geld und Ware, selbst Waffen. Und das Ganze auch noch sicher vor Überwachung. Wer sollte bei dem Krawall schon mitkriegen, was nebenan besprochen wurde? Auch in dieser Hinsicht haben die Behörden die strukturelle Bedeutung einer Organisierung im subkulturellen Kontext jahrelang – wenn nicht bis heute – unterschätzt.

Die Ideologie des »Rassenkriegs«

Feuerkreuz wurde von Carsten Szczepanski als KKK Berlin herausgegeben. © apabiz e.V.
Feuerkreuz wurde von Carsten Szczepanski als KKK Berlin herausgegeben. © apabiz e.V.

Die internationalen Kontakte der Brandenburger Naziszene waren die Einfallstore der Ideologie des »Rassenkriegs«. Es waren die englischsprachigen Bands, ihre Texte und ihre Mitglieder, die bereits 1991 und 1992 in Brandenburg diese Auffassung propagierten. Wie stark die ideologischen Schriften in der Naziszene wahrgenommen und diskutiert worden sind, ist nicht einfach nachzuzeichnen. Sie kursierten hier und dort, wurden bei Razzien beschlagnahmt; vor allem in den Fanzines jener Zeit[9] bezogen sich Autorinnen und Autoren immer wieder auf einige wenige deutsche und englischsprachige Texte, die regelrechte Kampfschriften sind, Handlungsanweisungen für den entschlossenen Soldaten oder »field manuals«, wie auch ein später Text des militant neonazistischen Netzwerks Blood & Honour hieß.[10]

Zentral für die Verbreitung von militanten Positionen war in Brandenburg und darüber hinaus das Fanzine »United Skins« aus Königs Wusterhausen. Sein Macher hieß Carsten Szczepanski und war von mindestens 1994[11] bis zu seiner Enttarnung 2000 unter dem Decknamen »Piatto« als V-Person tätig. In den Ausgaben des Magazins fanden sich nicht nur allgemeine Aufrufe zur politischen Gewalt. Carsten Szczepanski hatte sich bereits 1991 nachweisbar dem »racewar« verschrieben und einen Ableger des Ku­Klux­Klans (KKK) in Brandenburg und Berlin gegründet. Gemeinsam mit Dennis Mahon, einem US-amerikanischen KKK-Aktivisten, inszenierte er im September 1991 eine »Feuerkreuz-Aktion«. Mahon plädierte schon seit Ende der 1980er-Jahre innerhalb des Ku­Klux­Klans wieder stärker für eine gewalttätige Strategie. Das Vorbild der radikalen KKK Fraktion[12] war die neonazistische Terrorgruppe The Order, die 1984/85 nach mehreren Mordanschlägen, Banküberfällen und Schusswechseln mit der Polizei vom FBI zerschlagen wurde.[13]

Dennis Mahon wurde für Carsten Szczepanski das, was im US-amerikanischen Diskurs des »homegrown terrorism« ein »enabler« [16] genannt wird: Er war der Wegbereiter für den jungen Westberliner und dessen Türöffner in den gewalttätigen Aktivismus. Mahon musste nicht selbst Hand anlegen; es reichte, den bereits überzeugten Nazi-Skinhead mit Hinweisen wie Bombenbauanleitungen zu versehen und ihm eine Rolle in dem internationalen Netzwerk zu geben. Der zukünftige V-Mann nahm die Angebote dankend an, erstellte ein eigenes Fanzine des KKK und pflegte Kontakte zu anderen Klan-Sympathisanten.[14] Und bereits Ende 1991 hantierte er offenbar mit Sprengstoff herum und tauchte deshalb in Königs Wusterhausen unter.

White Beret wurde von Dennis Mahon herausgegeben. © apabiz e.V.
White Beret wurde von Dennis Mahon herausgegeben. © apabiz e.V.

In den Jahren bis 1998 entwickelte sich Szczepanski unter der Hand des Verfassungsschutzes zu einem zentralen Organisator im militanten Netzwerk Brandenburgs, ähnlich wie sein früher Mentor Mahon aus den USA. Nun war Szczepanski derjenige, der nicht selbst loszog, aber bekannt dafür war, gewalttätige, auch bewaffnete Aktionen nach Kräften zu fördern. So wurde der V-Mann »Piatto« zum »enabler« terroristischer Akte. Alle durch ihn bekannt gewordenen Aktivitäten – die Suche des NSU-Unterstützers Jan Werner nach Waffen für das NSU-Trio, die geplanten Anschläge der National­Revolutionären Zellen – tragen deutliche Züge von Sting-Operationen, mit denen Lockspitzel kriminelle Handlungen absichtlich provozieren.[15] Wir wissen wenig über die konkreten Methoden der Steuerung von V-Leuten wie »Piatto«. Es ist aber in anderen Fällen belegt, dass solche strategischen Pläne wie die Übernahme von Funktionen in der NPD oder eben auch die Provokation von gewalttätigen Aktionen nicht ohne Absprache und Genehmigung der V-Mann-Führer stattfanden. Das gezielte Heranführen an für die Dienste relevante Strukturen ist auch aus dem Fall »Piatto« bekannt, was seine Aktivitäten in der NPD Berlin-Brandenburg angeht. Es drängt sich daher die Frage auf, ob es diese Steuerung auch bei den Anschlagsplänen in seinem Umfeld gegeben hat.

Auch wenn die Aktivitäten von Carsten Szczepanski die bekanntesten sind, ragt seine Karriere doch nur aus einem ausgedehnten Netzwerk militanter »Rassenkrieger« hervor. Neben dem eigenen Umfeld von United Skins waren dies ab Mitte der 1990er-Jahre weitere Kameradschaften, die als Reaktion auf die staatlichen Verbote der Freiheitlichen Deutschen Arbeiterpar­tei (FAP), der Deutschen Alternative und der Nationalistischen Front auch in Brandenburg flächendeckend entstanden. Als selbst erklärte Elite formierten sich ab 1994 in Brandenburg gleich zwei Sektionen von Blood & Honour, eine Sektion Brandenburg um die Band Proissenheads und Uwe Menzel aus Potsdam, dessen Aktivitäten als inzwischen jahrzehntelanger Scharfmacher auch in diesem Buch beschrieben werden, sowie eine Sektion Südbrandenburg um die Band Senf heads aus Senftenberg. Die Vorzeigeband von B&H war in den späten 1990er-Jahren die Berlin-Brandenburger Band Landser, die vor allem über ihr Mitglied Christian Wenndorf bestens in der Brandenburger Szene vernetzt war.[16]

Auffällig ist, wie intensiv die Freundschaften und politischen Aktivitäten nach Westsachsen gepflegt wurden. Es ist durchaus angebracht, von einer »Achse Potsdam–Chemnitz« zu sprechen, die aber weiter ins Erzgebirge zu anderen engen Vertrauten des NSU reichte und auch von den United Skins aus Königs Wusterhausen geteilt wurde. Eine weitere Verbindung gab es via Mecklenburg-Vorpommern nach Dänemark und Schweden: eine Versorgungslinie für den illegalen Handel mit neonazistischer Propaganda. Über Skandinavien wurde bereits ab 1994 ein Großteil der Tonträger und Schriften importiert, die in Deutschland nicht legal zu erwerben waren. Dort saß Marcel Schilf, ein inzwischen (2001) verstorbener Brandenburger Neonazi mit dänischem Pass, der mit seinem Label NS 88 die Szene in ganz Deutschland belieferte. Hinzu kamen weitere Verbindungen ins Ausland: Delegationen von Combat 18 (Großbritannien) oder von Storm (Schweden) besuchten Brandenburg und fielen zum Teil durch strafbare Handlungen auf.

Die »Rassenkrieger« in Berlin und Brandenburg

Die Idee des »Rassenkrieges« dominierte die Gedankenwelt der jungen, radikalisierten Generation. Unter dem Eindruck der Verbote der frühen 1990er-Jahre und der verstärkten Repression gegen Teile der Neonazi-Bewegung formierte sich die Szene neu und radikalisierte sich: Sie bildete neonazistische Kameradschaften und Netzwerke, die sie für weniger angreifbar durch den Staat hielt. In diesen wurden Diskussionen über bewaffnete Aktionen weitergeführt, und aus diesen Kreisen rekrutierten sich auch die Personen, die bereit waren, zu den Waffen zu greifen und mit Gewalt gegen politische Gegnerinnen und Gegner vorzugehen.

Am 19. Februar 1997 betrat der Berliner Neonazi Kay Diesner bewaffnet mit einer Pumpgun die Geschäftsstelle der PDS in Berlin-Hellersdorf. Dort schoss er auf einen Buchhändler und verletzte diesen schwer. Auf der Flucht geriet Diesner in eine Polizeikontrolle und lieferte sich ein Feuergefecht, in dessen Verlauf er einen Polizisten tötete und einen weiteren schwer verletzte. Nach seiner Festnahme erklärte Diesner, er habe sich als Mitglied des Weißen Arischen Widerstandes (WAW) »gegenüber dem Staat in einer Notwehrsituation«[17] befunden. In dem Fanzine »United Skins« wurde Diesner daraufhin solidarisch als »Kriegsgefangener des Systems« bezeichnet.[18] In derselben Ausgabe erschien der Text eines Gesinnungsgenossen, der sich als »gewaltloser politischer Gefangener« bezeichnete, Marcus Bischoff. Beide, Diesner und Bischoff, waren Anfang des Jahrzehnts Weggefährten in ebenjenem WAW gewesen, als dessen führender Kopf Bischoff galt. Unter dem Titel »Vorbereitung zur Notwehr ist kein Terrorismus!« schrieb Bischoff eine seitenlange Rechtfertigung für die Anwendung von Gewalt. Beim »Zusammenbruch des westlich kapitalistischen Systems«, so Bischoff, werde es zwangsläufig nicht gewaltfrei zugehen können: »Es werden Leute nötig sein, die als Fachkräfte den Widerstand organisieren können.« Die Ausrüstung mit Waffen nannte er verniedlichend »materielle Vorsorge«, um die sich die »idealistischen Kämpfer für die Freiheit und die biologische Existenz der weißen Menschen und Völker« angesichts »härterer Kampfbedingungen« zu kümmern hätten. Wie sollte dies vor dem Hintergrund der Tat Diesners, die Bischoff – ohne sie zu nennen – ganz offensichtlich verteidigte, von den jungen, »wehrhaften Kameraden« verstanden werden? Brandenburger Neonazis adaptierten so Strukturen, die ähnlich ausgerichtet waren, wie sich Louis Beam und Robert Miles, US-amerikanische Vordenker des »leaderless resistance«, des führerlosen, dezentralen Widerstandes, dies bereits in den 1980er-Jahren vorgestellt hatten: unabhängige, regional organisierte Zellen, die in einem Netz (»web«) über Einzelpersonen miteinander verbunden waren.[19] Der US-amerikanische Nazi Tom Metzger schrieb: »Leaderless Resistance ist eine originelle Bezeichnung für eigenverantwortliche Fanatiker, die das rassische und persönliche Überleben sichern wollen und sich darauf vorbereiten, dies auch mit allen verfügbaren Mitteln durchzusetzen […]. Hochentwickelte Organisationen sind zum gegenwärtigen Zeitpunkt eine Verschwendung von Zeit und Geld.«[20]

Und hier wie dort waren solche Überlegungen direkt mit den Zielen der neonazistischen Bewegung verbunden. Und diese lauteten: Angriff auf die politischen Gegnerinnen und Gegner, das System und diejenigen, die es repräsentieren. Ab 1999 bildeten sich mehrere Gruppen, die dies in die Tat umsetzten: zum einen die National­Revolutionären Zellen (NRZ), eine militante Kleingruppe, die ab 2000 in und um Königs Wusterhausen Anschläge ausführte, zum anderen die Nationale Bewegung, deren Aktionen bislang nicht aufgeklärt werden konnten.[21]

Nie aufgeklärt: Brandenburger »Feierabendterrorismus«

Das Beispiel NSU darf nicht den Blick auf jenes Modell verstellen, das bereits 1998, als das Trio in den Untergrund ging, viel weiter verbreitet war: das der autonom agierenden Zelle, deren Mitglieder legal lebten und klandestin Anschläge organisierten. Das jahrelange Leben im Untergrund, wie es der NSU praktizierte, blieb eine Ausnahme im Nazi-Terrorismus. Ende 1998 warnte der damals scheidende Chef des Brandenburger Verfassungsschutzes, Hans-Jürgen Förster, davor, beim rechten Terror »auf das Modell der linksterroristischen Roten Armee Fraktion zu starren« und sah eher die Gefahr, dass sich »eine Art Feierabendterrorismus im rechten Bereich entwickelt«. Diese eher beiläufige Einschätzung in einem Zeitungsinterview kam der tatsächlichen Situation immerhin näher als viele Äußerungen aus den Behörden in jener Zeit. Aber auch Förster unterschätzte die Entschlossenheit der neonazistischen Bewegung, als er konstatierte, dass es »gegenwärtig keinen Untergrund [gebe], in den die Rechten gehen könnten«.[22] Diese in den Behörden damals vorherrschende Meinung, es gebe nichts, was der Verfassungsschutz nicht sehe, ist mit schuld an dem NSU-Desaster.
Die Geschichte des neonazistischen Terrors in den 1990er-Jahren ist in weiten Teilen die der Selbstermächtigung einer Szene, die ihre eigenen Traktate zum »bewaffneten Widerstand« immer ernst genommen hat. Straßenterror und Terrorismus wurden als aufeinanderfolgende Schritte ein und derselben Bewegung verstanden und genauso propagiert. Wo die neonationalsozialistische Bewegung das Gefühl bekam, der Staat und die demokratische Gesellschaft nehme ihr die Luft zum Atmen, bereiteten sich einige darauf vor, gewaltsam zuzuschlagen.

Die »materielle Vorsorge« für den »Rassenkrieg« fand unter der intensiven Beobachtung und mit Wissen des Brandenburger Landesamtes für Verfassungsschutz statt. So hielt etwa der vom Brandenburger Verfassungsschutz betreute Carsten Szczepanski das eigene Umfeld laut der Aussage eines ehemaligen »Kameraden« zur Verwendung von Waffengewalt an. Es scheint derzeit, als wollten die betreffenden Stellen aber vor allem um einen eigenen Beitrag zur Aufarbeitung des NSU herumkommen; das gilt auch in Bezug auf die heimischen Terrorgruppen, ob groß oder klein. So nährte jüngst die Weigerung des Potsdamer Innenministeriums im NSU-Prozess in München, Akten über den V-Mann »Piatto« dem Gericht zur Verfügung zu stellen,[23] den Verdacht, dass der brandenburgische Verfassungsschutz die Öffentlichkeit täuschen wolle.[24] Dies ist ein erneuter Schlag ins Gesicht für die Opfer des Neonazi-Terrors.

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Demonstration für die NSU-Opfer am 13. April 2013 in München (Foto: Birgit Mair)

Gleichzeitig sieht sich die bundesdeutsche Gesellschaft einer der größten rassistischen Gewaltwellen seit der Wiedervereinigung gegenüber: seit Jahresbeginn 2015 täglich mehr als vier bis fünf rassistische Gewalttaten, bis Anfang Dezember mehr als 300 Angriffe und Dutzende Brandanschläge gegen geplante und bewohnte Flüchtlingsunterkünfte. Die Rolle der organisierten Neonazi-Szene ist ganz ähnlich der Anfang der 1990er-Jahre: Sie greifen in den lokalen Protest ein, verschärfen ihn, leiten an und drängen zu Gewalt und Terror. Und diejenigen, die die Anschläge verüben, kommen meistens straflos davon, nur in vier Fällen wurden bisher Urteile gesprochen, acht weitere stehen zur Anklage.[25] »Die Kultur der Straflosigkeit der 1990er-Jahre für die TäterInnen und den applaudierenden Mob von Hoyerswerda, Rostock-Lichtenhagen, Eisenhüttenstadt oder Magdeburg ist eine der zentralen Ursachen für das Selbstbewusstsein, mit dem die ›Generation Terror‹ der 1990er-Jahre Netzwerke wie den ›Nationalsozialistischen Untergrund‹ aufbaute und rechtsextreme Parallelwelten vor Ort verankern konnte. In der Sächsischen Schweiz, in Heidenau, Freital oder Meißen zeigt sich, was passiert, wenn diese Parallelwelten über ein Vierteljahrhundert unangetastet bleiben.«[26]

Wir können aus der Rückschau auf den NSU nachvollziehen, aus welchem Milieu er erwuchs, welche politischen und sozialen Bedingungen seine Entstehung begünstigte. Während die Aufarbeitung der Wechselwirkung von rassistischem Mob, NSU und Geheimdiensten gerade noch läuft, sieht es derzeit so aus, als müssten wir dieses Wissen bereits jetzt lernen anzuwenden, um eine neue »Generation Terror« zu verhindern.

[9]    Zu den Konzepten für den Rechtsterrorismus vgl. Eike Sanders/Kevin Stützel/Klara Tymanova: Taten und Worte – Neonazistische »Blaupausen« des NSU, in: Bodo Ramelow (Hrsg.): Schreddern, Spitzeln, Staatsversagen. Wie rechter Terror, Behördenkumpanei und Rassismus aus der Mitte zusammengehen, Hamburg 2013, S. 114–125.
[10]    David Myatt: A Practical Guide to The Strategy and Tactics of Revolution, o. O. o. J. [1996 oder 1997], S. 18.

  1.  Hilde Sanft: Zwischen grenzenloser Solidarität und mörderischem Rassismus, in: Antifaschistisches Infoblatt 108 (3/2015), S. 9.
  2.  Deutscher Rassismus am Wochenende, in: die tageszeitung vom 7.9.1992; die ZAST in Eisenhüttenstadt hieß korrekt Zentrale Aufnahmestelle für Asylbewerber. Weitere Angriffe am selben Wochenende wurden gemeldet aus Guben und Wittstock (Brandenburg), Hamminkeln und Düsseldorf (Nordrhein-Westphalen), Bevern (Niedersachsen), Engelsberg (Bayern), Gelnhausen (Hessen), Koblenz bei Hoyerswerda, Chemnitz, Neustadt und Werdau (Sachsen), Greifswald, Trassenheide, Neubrandenburg, Pritzier, Ueckermünde, Brahlstorf bei Schwerin (Mecklenburg-Vorpommern), Ecklingerode und Bad Langensalza (Thüringen), Wansleben, Wernigerode, Mansfeld, Hettstedt (Sachsen-Anhalt), Berlin.
  3.  Vgl. Berliner Sonntagspost, zit. nach: Bundestags-Drucksache 12/3389 vom 8.10.1992.
  4.  Marcel Braumann: Lichtblick: Eine Stadt probt den Anstand, in: Neues Deutschland vom 11.9.1992.
  5.  Um einen Eindruck von der damaligen Vielzahl und Art der Aktivitäten neonazistischer Gruppierungen zu erhalten, vgl. die Chronik von Christoph Schulze in diesem Band.
  6.  Vgl. Ministerium des Innern des Landes Brandenburg: Rechtsextremismus in Brandenburg – gegenwärtiger Stand, o. J. (August 1993), S. 3. (im Archiv des Antifaschistischen Pressearchivs und Bildungszentrums Berlin – apabiz).
  7.  Die nur männliche Form ist in diesem Fall Absicht, da mir in Brandenburg nur Fälle von männlichen Aktivisten vorliegen. Zur wichtigen Rolle von Frauen im Rechtsterrorismus fehlt in Deutschland bisher eine umfassende Untersuchung. Einzelne Texte dazu vor allem von Eike Sanders.
  8.  Henning Flad: Trotz Verbot nicht tot. Ideologieproduktion in den Songs der extremen Rechten, in: Christian Dornbusch/Jan Raabe (Hrsg.): RechtsRock. Bestandsaufnahme und Gegenstrategien, Münster 2002, S. 98.
  9.  Das Internet spielte Anfang der 1990er-Jahre noch keine Rolle.
  10.   Max Hammer (alias Erik Blücher): Field Manual, o. O. o. J. (2000).
  11.  Es ist möglich, dass er bereits früher V-Mann wurde; vgl. den Beitrag von Dirk Laabs in diesem Band.
  12.  Außer Dennis Mahon gehörten dazu auch Louis Beam und Robert Miles, die die Strategie des »leaderless resistance« entwickelten, sowie der ehemalige KKK-Mann Tom Metzger, der die Gruppe White Aryan Resistance (WAR) gründete. Zu Mahon vgl. Stefan Aust/Dirk Laabs: Heimatschutz. Der Staat und die Mordserie des NSU, S. 32–40.
  13.  Zu The Order vgl. Dirk Laabs: Der NSU, »The Order« und die neue Art des Kampfes, in: Antifaschistisches Infoblatt 105 (4/2014), S. 10. [16] Eine Rolle, die heute zunehmend das Internet erfüllt; vgl. Southern Poverty Law Center: Age of the Wolf. A Study on the Rise of Lone Wolf and Leaderless Resistance Terrorism, Montgomery 2015.
  14.  Vgl. den Beitrag von Dirk Laabs in diesem Band.
  15.  Aus aktuellen Untersuchungen ist bekannt, dass bis zu einem Viertel der terroristischen Handlungen, nicht nur von rechts, von Informanten oder Vertrauenspersonen angezettelt werden; vgl. z. B. Mark Hamm/Ramon Spaaj: Lone Wolf Terrorism in America. Using Knowledge of Radicalization Pathways to Forge Prevention Strategies, Indiana State University, February 2015.
  16.  Vgl. dazu und zum Folgenden den Beitrag von Marie Kwiatek und Michael Weiss in diesem Band.
  17.  Zit. nach: Lebende Zeitbomben, in: Der Spiegel vom 3.3.1997, S. 32 ff.
  18.  United Skins, Nr. 11 (Herbst 1997); dort auch die nachfolgenden Zitate.
  19.  Vgl. Leonard Zeskind: Blood and Politics, New York 2009, S. 84 ff.
  20.  Zit. nach: Hammer: Field Manual, S. 21.
  21.  Vgl. die Beiträge von Heike Kleffner und Maik Baumgärtner in diesem Band.
  22.  »Sehen nicht tatenlos zu«. Interview mit Hans-Jürgen Förster, in: Der Spiegel vom 3.8.1998, S. 29; vgl. »Viele rechtsextreme Täter empfinden sich als potentiell arbeitslos«, in: Der Tagesspiegel vom 28.11.1998.
  23.  Vgl. Frank Jansen/Alexander Fröhlich: Opferanwälte wollen Razzia beim Verfassungsschutz, in: Potsdamer Neueste Nachrichten vom 18.9.2015.
  24.  Vgl. den Beitrag von Antonia von der Behrens in diesem Band.
  25.  Vgl. Paul Blickle u. a.: Es brennt in Deutschland, Zeit Online, 4.12.2015, unter: www.zeit.de/politik/deutschland/2015-11/rechtsextremismus-fluechtlingsunterkuenfte-gewalt-gegen-fluechtlinge-justiz-taeter-urteile.
  26.  Sanft: Zwischen grenzenloser Solidarität, S. 9.