Nach einem Anschlag im August 2015 brannte eine Turnhalle in Nauen aus.  Foto: apabiz

Das Bild bleibt unvollständig

Die Zahlen von rassistischen Anschlägen und Demonstrationen unterscheiden sich erheblich

Die rassistischen Angriffe auf bewohnte oder geplante Unterkünfte von Geflüchteten haben drastisch zugenommen. Über 70 Brandstiftungen zählen unabhängige Recherchen bislang im Jahr 2015. In der Berichterstattung wird immer wieder auf Zahlen des Innenministeriums beziehungsweise des Bundeskriminalamts zurückgegriffen. Eine qualitative Auseinandersetzung mit diesen erfolgt jedoch meist nicht.

von Kilian Behrens

Am 12. Oktober 2014, also vor knapp einem Jahr, flogen in Groß Lüsewitz bei Rostock zwei Molotovcocktails gegen eine Asylunterkunft. Zu dieser Zeit waren hier bereits acht Familien untergebracht. Monate später konnten zwei Tatverdächtige festgenommen werden, diese sitzen seit August in Untersuchungshaft. Die Staatsanwaltschaft erhob nun Anklage wegen versuchten Mordes. In den Zahlen der Bundesregierung zu Angriffen gegen Asylunterkünfte sucht man Groß Lüsewitz vergebens.

Einmal pro Quartal veröffentlicht das Bundesministerium des Innern diese Zahlen inklusive einer Liste, welche die Delikte einzeln aufschlüsselt. Das Ergebnis scheint eindeutig: 173 rechte Straftaten gegen Asylunterkünfte im ersten Halbjahr 2015. Das sind fast dreimal so viele wie in der ersten Jahreshälfte 2014 (75). Im Oktober sprach Innenminister De Maizière von mehr als 490 Straftaten im laufenden Jahr. Die aktuelle Drucksache des Bundestages lag bei Redaktionsschluss noch nicht vor. Die Äußerungen De Maizières deuten aber darauf hin, dass sich die Angriffe im 3. Quartal im Vergleich zu den Vormonaten erneut mehr als verdoppelt haben. Doch dürften auch diese Zahlen unvollständig sein. In den Auflistungen des Bundesinnenministeriums fehlen immer wieder Delikte. Dies zeigt ein Abgleich, den wir mit Dokumentationen verschiedener unabhängiger Beobachtungsstellen rechter Gewalt in den ostdeutschen Bundesländern durchgeführt haben.

Tröglitz und Escheburg – zwei von vielen

Die offiziellen Daten basieren auf den Ergebnissen der einzelnen Polizeibehörden vor Ort, welche diese an das BKA melden. Häufig wird in Pressemeldungen die Gesamtzahl der genannten Delikte zitiert. In der Statistik werden jedoch sämtliche Straftaten am »Tatort oder mit dem Ziel« Asylunterkunft geführt. Es finden also auch Taten Eingang, die im Zusammenhang mit zivilgesellschaftlichen Interventionen zum Schutz von Asylunterkünften stattgefunden haben. Bezieht man sich jedoch wie eingangs ausschließlich auf die PMK-rechts-Fälle, laufen wir Gefahr verschiedene Delikte, bei denen eine rassistische Motivation durch die Behörden nicht erkannt wurde, auszuklammern. Rassismus als Tatmotiv anzuerkennen war in der Vergangenheit bekanntlich keine Stärke der Ermittlungsbehörden. Konkret für die Zahlen des ersten Halbjahres bedeutet dies, dass etwa die Brandanschläge in Tröglitz (Sachsen-Anhalt) im April und in Escheburg (Schleswig-Holstein) im Februar keine Berücksichtigung finden, da sie nicht unter PMK-rechts geführt werden. Bei erst genanntem Anschlag gibt es aufgrund der monatelangen rassistischen Hetze und Bedrohungen im Ort begründeten Anlass von einem rechten Anschlag auszugehen. Zur Zeit als das Feuer gelegt wurde, wohnten zwei Personen in dem Gebäude, deren Leben durch das Feuer bedroht wurde. Der Dachstuhl des Gebäudes brannte völlig aus. Aufgeführt wird Tröglitz aktuell als schwere Brandstiftung, nicht aber als versuchter Mord. Die Ermittlungen waren zunächst, wie bei vielen vergleichbaren Fällen, unergiebig. Erst im Oktober konnte erstmals ein Tatverdächtiger ermittelt werden, dieser sympathisiert laut Medienberichten mit der NPD. In Escheburg hingegen war die rassistische Motivation des mittlerweile verurteilten Brandstifters bald bekannt. Dieser gab vor Gericht an, aus Angst um die Idylle im Ort gehandelt zu haben.

Zusätzlich zu den Fällen, bei denen die PMK-Zuordnung zu kritisieren ist, gibt es immer wieder Angriffe, egal ob Sachbeschädigungen oder Körperverletzungen, die nicht in der Statistik des BMI aufgeführt werden. Einige dieser Fälle könnten im Verlauf des Jahres nachgemeldet werden, da die Zahlen je nach Abfragedatum und Ermittlungsstand nachträglich aktualisiert werden. Sicher ist das aber nicht.

Versuchte Brandstiftung oder »nur« Sachbeschädigung

Auch die in der Liste verwandten Straftatbestände werfen Fragen auf. Zu den am häufigsten registrierten Delikten gehören Sachbeschädigungen, Volksverhetzungen und das Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen. Doch auch schwere Körperverletzungen, Bedrohungen und Brandstiftungen werden geführt. Von diesen Daten zurück auf das konkrete Geschehen zu recherchieren erweist sich, vor allem da wo unabhängige Beobachtungsstellen fehlen, als schwierig. Die folgenden zwei Beispiele zeigen jedoch wie problematisch eine Nichtüberprüfung ist. So meldet die RAA Sachsen e.V für den 3. Juni 2015 eine versuchte Brandstiftung in ihrer Chronik rechter Gewalt. Hier heißt es mit Bezug auf Presse- und Polizeimeldungen: »Unbekannte haben in der Nacht zu Mittwoch einen Brandanschlag auf das Asylbewerberheim in Hoyerswerda verübt. Nach Polizeiangaben warfen sie einen Behälter mit brennbarer Flüssigkeit in Richtung der Notunterkunft, in der sich zu diesem Zeitpunkt 27 Asylbewerber aufhielten.« In der Liste des BMI findet sich für den 3. Juni in Hoyerswerda jedoch lediglich eine Störung des öffentlichen Friedens durch Androhung von Straftaten und eben keine versuchte Brandstiftung.

Ein ähnlicher Fall in Brandenburg: Hier berichtete der Verein Opferperspektive am 4. November 2014, dass in der Nähe einer zukünftigen Notunterkunft in Senftenberg ein Molotovcocktail gefunden wurde, welcher offensichtlich sein Ziel verfehlte. Außerdem wurde an dem Gebäude die Parole »Werden hier Asylbewerber wohnen, werden hier bald Flammen lodern« angebracht. Versuchte Brandstiftung sucht man erneut vergebens in der Liste des BMI. Auffindbar ist lediglich ein Eintrag für den Vortag, der eine Sachbeschädigung angibt.

Auch der Tatbestand versuchter Mord fand sich hier bislang nicht. De Maizière nannte diesen nun erstmalig in einer Stellungnahme zu den aktuellen Entwicklungen. Den aufgeschlüsselten Zahlen des 3. Quartals werden wir möglicherweise entnehmen können, wo entsprechend ermittelt wird. Immer häufiger finden derzeit Brandstiftungen auch an bewohnten Unterkünften statt. Dabei wird der Tod von Menschen billigend in Kauf genommen. Der Umstand, dass die aktuellen Anschläge bislang noch keine Todesopfer gefordert haben, ist da beinahe glücklich.

Zunahme rassistischer Mobilisierungen wird ignoriert

Die Zunahme von Anschlägen auf Unterkünfte für Geflüchtete steht im Zusammenhang mit einem Anstieg rassistischer Aufmärsche generell und einem öffentlich geführten Diskurs, der Geflüchteten immer wieder ihre Fluchtgründe abspricht und sie nur allzu oft als Gefahr darstellt. Tatsächlich sind die Zahlen der Angriffe gegen Unterkünfte Ende 2014 sprunghaft angestiegen, also genau dann als PEGIDA in Dresden und die verschiedenen anderen GIDAs im Bundesgebiet zahlenmäßig am Stärksten waren und im Fokus der Öffentlichkeit standen.

Ein Blick auf die Zahlen der Bundesregierung zu extrem rechten Aufmärschen zeigt aber, wie ein Großteil der aktuellen Mobilisierungen hier schlicht ignoriert wird. So finden sich zwar verschiedene GIDA-Aufmärsche in der Aufstellung, jedoch nur wenn bei diesen eine neonazistische Dominanz oder gar Steuerung erkannt wird. Gerade das Dresdner Original mit den größten TeilnehmerInnenzahlen fehlt aber komplett, ebenso HOGESA. Auch keiner der anderen sächsischen GIDA-Aufmärsche ist in den Zahlen enthalten, auch dann nicht, wenn er wie in Leipzig das bevorzugte Betätigungsfeld von Neonazi-Hooligans ist. Mit der Verengung auf einen einseitigen Rechtsextremismus-Begriff, welcher sich lediglich auf organisierte Strukturen und Parteien beschränkt, ist es den Behörden erneut nicht möglich die aktuellen Entwicklungen adäquat einzuordnen. Gelistet wird nur, was allzu offensichtlich neonazistisch ist. Aggressiver Rassismus und andere Bestandteile extrem rechter Ideologie auf der Straße allein qualifizieren offenbar nicht dafür, seitens der Institutionen in den Fokus zu geraten. Wo Rassismus außerhalb von extrem rechten Parteien und Kameradschaften propagiert wird, wird er also nicht als solcher erkannt. Häufig wird dabei das Bild der vermeintlich berechtigten Ängste »besorgter Bürger« bemüht. Es sind aber eben genau diese, welche sich als »Vollstrecker des Volkszorns« der geistigen Unterstützung aus ihrem sozialen Umfeld in Nachbarschaft oder Betrieb gewiss sein dürften.

Wie hoch die Diskrepanz zwischen unabhängiger Beobachtung und offizieller Darstellung ist, zeigen unsere Dokumentationen zu rechten Aufmärschen in Berlin. Im Zeitraum Oktober 2014 bis März 2015 wurden durch das BMI genau drei Veranstaltungen der extremen Rechten in Berlin vermeldet. Alle drei werden der NPD zugerechnet. Unerwähnt bleiben die allein Ende des Jahres 2014 dreimal wöchentlich stattgefundenen, rassistischen Aufmärsche in den Randbezirken der Stadt, bei denen ein Großteil der Infrastruktur inklusive der RednerInnen und OdnerInnen aus bekannten Neonazistrukturen kamen und welche gern unter dem Label »Nein zum Heim« beziehungsweise einer »Bürgerinitiative« auftraten. Dadurch fehlen rassistische Aufmärsche mit bis zu 1.000 Personen in Marzahn-Hellersdorf, ganz zu schweigen vom extrem-rechten Potpourri aus Identitärer Bewegung, Pro Deutschland, AfD, NPD und Holocausleugnern al á BÄRGIDA, dass sich seit Jahresbeginn jede Woche in der Stadt versammelt. So zählen wir im selben Zeitraum nicht drei sondern 56 Veranstaltungen mit nicht nur 300 TeilnehmerInnen, sondern insgesamt ca. 10.000 Personen. Zahlen, die auf die hohe Regelmäßigkeit zurückgehen, mit der Rassismus derzeit auch auf Berliner Straßen propagiert wird.

Lieber genau hinsehen

Durch das unhinterfragte Übernehmen der Zahlen des BMI in der Berichterstattung wird fataler weise die behördliche Deutungshoheit über die aktuellen rassistischen Ausschreitungen anerkannt und weiterverbreitet. Wer das tatsächliche Ausmaß beschreiben will, recherchiert jedoch auch weiterhin lieber selbst. Da die Zahlen nur alle drei Monate veröffentlicht werden und häufig schon wenige Tage später völlig veraltet sind, greifen verschiedene Pressestellen auch auf aktuellere Zahlen des BKA zurück. Diese werden jedoch in keiner Weise aufgeschlüsselt. Eine Überprüfung der Zahlen ist so unmöglich. Welche Delikte berücksichtigt wurden, darüber kann nur gerätselt werden. Allein im Bereich von Brandstiftungen liegen die Zahlen unserer eigenen Recherchen circa dreimal höher.

Eine generelle Tendenz liefern die offiziellen Zahlen also nur zum Teil, auch wenn das Anwachsen rassistischer Gewalt derart offensichtlich ist, dass diese auch trotz ungenauer Daten erkennbar ist. Das tatsächliche Ausmaß von rassistischen Angriffen sowie Aufmärschen liegt mit Sicherheit aber höher. Mit einer unabhängigen Dokumentation in allen Bundesländern wäre schon viel gewonnen. Neben den Zahlen gilt dies vor allem auch für eine qualitative Einschätzung, welche nicht durch die Brille einer völlig diskreditierten Extremismustheorie erfolgen würde.

Die Debatte um rechten Terror

Vermehrt wird nun darüber diskutiert, um wen es sich bei den BrandstifterInnen handelt. Für die Mehrheit der Brandanschläge sind bis jetzt keine Tatverdächtigen ermittelt worden. Hinweise auf eine überregionale-koordinierte Struktur finden sich derzeit nicht. Dieser bedarf es wohl auch nicht. Vor Ort gibt es genügend gewaltbereites rassistisches Potential und das nötige Know-How liefert ein kurzer Blick ins Internet. So ist es auch nicht in organisierte Strukturen eingebundenen RassistInnen problemlos möglich Anschläge zu verüben. Aber auch von einer Wissensweitergabe der alten, noch immer aktiven Hoyerswerda-Generation an neue potentielle BrandstifterInnen ist auszugehen. Wenn nun eine Debatte aufkommt, ob es sich bei der aktuellen Gewalt um eine Form rechten Terrors handelt, dürfen aber nicht lediglich die bekannten Konzepte von im Untergrund agierender Gruppen herangezogen werden. Vielmehr ist rassistische Gewalt derzeit konsensfähig in vielen Ortschaften. Die Debatte birgt somit auch die Gefahr rechte Gewalt einmal mehr als gesellschaftliches Randphänomen abzuhaken. Auffällig ist, dass offenbar bei vielen Brandanschlägen eine genaue Kenntnis über Gebäude und Umfeld vorhanden ist. Anders sind Anschläge wie in Nauen (Brandenburg), wo gezielt Gas in ein unbewohntes Gebäude geleitet wurde um dieses zur Explosion zu bringen, nicht denkbar.

Gegenstrategien entwickeln

Die Verharmlosung rechter Gewalt und eine nicht stattgefundene Strafverfolgung haben in den neunziger Jahren das Entstehen des NSU mit ermöglicht. Wenn heutzutage einmal mehr der Gefahr, die von RassistInnen ausgeht, aufgrund mangelhafter Analysen nicht entgegengewirkt wird, stellt sich die Frage, was die Behörden seit dem dazu gelernt haben.

Aufgabe antifaschistischer Gruppen muss sein, Rassismus immer wieder auch als solchen zu benennen und als das wahrscheinlichste Tatmotiv in die öffentlichen Debatten zu tragen. Dabei gilt es bei schieren Menge an Angriffen nicht den Überblick zu verlieren und gemeinsam mit Refugees eine Strategie zu entwickeln. Kritischer Journalismus kann dazu seinen Beitrag leisten. Dafür sollten Zahlen staatlicher Stellen aber nicht widerspruchslos übernommen werden.

 

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